Scarlett – Die Liebe hat Augen wie Eis, der Tod hat Augen wie Feuer: Roman
den Ohren hinauf und beobachte den Himmel. Verliere mich darin wie in einem endlos tiefen dunklen Brunnenschacht. Wie viele Gedanken verbergen sich dort, tief unten in meiner Seele? Ich fürchte, dass niemand sie zählen könnte. Und heute Nacht werde ich wahrscheinlich kein Auge zumachen. Ich denke an mein früheres Leben. Da hatte ich Freunde, die mich gern mochten, und meine Eltern vertrugen sich einigermaßen. Samstags gingen wir mit unserer Clique ins Kino und dann eine Pizza essen oder in ein Pub. Hier vertrauen mir meine Freundinnen nicht, und den Samstagabend verbringe ich unweigerlich zu Hause. Vielleicht sollte ich der Tatsache ins Auge sehen, dass ich gar keine Freundinnen habe.
Und dann hat die Ehe meiner Eltern einen Riss bekommen. Wird die Zeit ihn heilen? Das kann ich nur hoffen, für mich und vor allem für Marco, der es noch nie so nötig hatte, sich als Teil einer Familie zu fühlen.
Seufzend drehe ich dem dunklen Himmel den Rücken zu. Vor mir die geschlossene Zimmertür. Wie bezeichnend. Sosehr ich mich auch bemühe, einen Zugang zu den Herzen meiner neuen Mitschüler zu finden, werde ich doch immer vor geschlossenen Türen stehen. Was stimmt denn nicht mit mir? Warum ist plötzlich alles so schwierig geworden?
Sicher, wenn ich nicht nach Siena gekommen wäre, hätte ich Mikael nie kennengelernt. Als ich sein Gesicht so klar vor mir sehe, erröte ich. Ich habe ihm heute nicht einmal gesagt, wie ich heiße. Was bin ich bloß für eine Pfeife!
Und sein bezauberndes Lächeln begleitet mich ins Reich der Schatten.
21
E in Geräusch. Ein leises Rascheln oder ein unterdrücktes Keuchen. Ich öffne die Augen, aber um mich herum ist es dunkel. Ich kneife ein paarmal die Augen zusammen, bis sich meine Pupillen an das Halbdunkel gewöhnt haben. Es ist nichts passiert, ich liege in meinem Bett und alles ist in Ordnung.
Ein unangenehmes Gefühl. Als würde mich jemand aus der Dunkelheit beobachten. Ein Blick wie von einem Raubvogel in meinem Rücken. Ich spüre das Gewicht und die grobe Liebkosung eines Nietenhandschuhs. Langsam drehe ich mich um, mit geschlossenen Lidern, das Laken bis zu den Ohren hochgezogen. Ich atme noch einmal tief durch, bevor ich mich entschließe, meine Augen zu öffnen, und dann sehe ich den blanken Horror vor mir. Eine reglose Silhouette auf der anderen Seite der Fensterscheibe, deren Gesichtszüge die Nacht ausgelöscht hat. Zwei feuerrote Abgründe anstelle der Augen. Ich setze mich ruckartig im Bett auf. Mein Atem geht schwer, ich würde gern schreien, aber mein Mund bleibt stumm. Diese Augen starren mich an, ich sehe Angst, Schmerz und Tod darin. Meinem Körper entringt sich ein Schrei der Verzweiflung: »Aaaah!«
Keuchend und nassgeschwitzt liege ich in meinem Bett. Es war nur ein Traum. Nur ein böser Traum.
Aber so real. Ich erinnere mich genau, woran ich als Letztes gedacht habe, bevor ich eingeschlafen bin: an Mikael und sein Lächeln. Als meine Gedanken sich auf ihn konzentrieren, finde ich meine Ruhe wieder. Ich schaue kurz auf den Wecker. Verdammt! Viertel vor acht! Wie von Furien gejagt springe ich aus dem Bett, schlüpfe hastig in die gleichen Klamotten wie gestern, die ich am Abend auf dem Stuhl abgelegt habe. Nein! Das T-Shirt mit den Einhörnern kann ich unmöglich wieder anziehen. Ich bin zwar spät dran, aber das heißt noch lange nicht, dass ich vorhabe, Selbstmord zu begehen. Daher entscheide ich mich für einen schwarzen Baumwollrolli und suche mir dazu einen violetten Schal raus. Ich verzichte nie auf einen Farbtupfer! Dann schnappe ich mir den Rucksack und werfe die auf dem Schreibtisch ausgebreiteten Bücher rein. Mir bleibt keine Zeit zum Überlegen, ich bin viel, viel zu spät.
»Mama!«, rufe ich, während ich die Treppe hinunterrenne, »warum hast du mich nicht geweckt?«
Keine Antwort. Nur ein Post-it am Kühlschrank: ICH BIN MIT MARCO BEIM ARZT. BIS SPÄTER. S
Wenn ich einmal ihre Hilfe brauche! Ich verlasse eilig die Wohnung und renne los. Nach ein paar Minuten kann ich schon nicht mehr. Mein Atem geht keuchend, vielleicht weil ich noch nichts gegessen habe. Ich beschließe, nicht mehr so schnell zu laufen, damit ich nicht ohnmächtig umfalle, und fange erst wieder an zu rennen, als die Silhouette vom San Carlo vor mir auftaucht. Das Tor ist noch offen, Gott sei Dank! Ich nehme immer zwei Stufen auf einmal, wie üblich.
Oben werfe ich einen Blick auf die große Uhr, die im Flur unbarmherzig die Minuten anzeigt, in der Hoffnung, ich
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