Scarlett – Die Liebe hat Augen wie Eis, der Tod hat Augen wie Feuer: Roman
lernen. Meine Hand gleitet über das Papier, und mein Stift zeichnet immer und immer wieder die Umrisse eines Gesichts, das mir so vertraut geworden ist. Mikael.
Von vorn, von der Seite und im Dreiviertelprofil, seine Augen en détail und die langen spinnennetzartigen Wimpern. Eine bittersüße Obsession.
Wir haben uns schon seit Tagen nicht mehr in der Abstellkammer getroffen. Ich habe mir angewöhnt, nach dem Unterricht dort vorbeizuschauen, um Black, der immer anhänglicher (und hungriger) wird, ein wenig Gesellschaft zu leisten. Ich habe ihm eine Schachtel Trockenfutter gekauft, das er über alles liebt. Den Karton habe ich gut sichtbar auf eines der eingestaubten Regale gestellt, und ich habe ihn auf ganz besondere Weise zusammengefaltet. Das ist eine Falle: Sollte Mikael ihn aufmachen, würde ich das merken. Er fehlt mir.
Ich vermisse seine Haare mit den goldenen Strähnchen, den intensiven Blick seiner Eisaugen und die Art, wie er seine Hände beim Reden bewegt. Ich würde gern die Traurigkeit vertreiben, die ich aus seiner Stimme heraushöre. Ich würde ihm gern ein Lächeln schenken, um noch einmal seine Zähne zu sehen, die sich schimmernd wie Perlen hinter diesen vollen, sinnlichen Lippen verbergen.
Alles an ihm vermisse ich. Und ich begreife nicht, warum er nicht mehr vorbeikommt, um nach Black zu sehen. Er schien doch so sehr an ihm zu hängen. Und er kann schließlich nicht davon ausgehen, dass ich mich um ihn kümmere. Das Kätzchen ist noch so klein, es braucht einfach jemanden, der für es sorgt.
Ich habe irgendwo gelesen, es gibt einen Trick, um Jungtiere zu beruhigen: Man muss nur ein Stück Stoff zurücklassen, das den Geruch des eigenen Körpers aufgenommen hat. Deshalb habe ich ihm irgendwann meinen lila Schal dagelassen. Ich glaube, er mochte ihn, aber jetzt ist der Schal verschwunden. Wo er ihn wohl versteckt hat?
Plötzlich überfällt mich eine bleierne Müdigkeit. Ich habe nicht einmal die Kraft, mich auszuziehen, daher lege ich mich so wie ich bin unter das Laken und hoffe, Mikael wenigstens in meinen Träumen zu begegnen.
23
I ch spritze mir kaltes Wasser ins Gesicht, um mir den Schlaf abzuwaschen. Brrr! Heute Morgen bin ich in meinen Kleidern aufgewacht. Sie waren zwar ein wenig zerknautscht, aber egal. Dafür habe ich jetzt keinen Kopf. Ich sollte lieber daran denken, dass ich heute in Geschichte abgefragt werde. Und ich fühle mich nicht gerade gut vorbereitet. Als ich hinuntergehe, sehe ich gerade noch, wie mein Vater türenknallend das Haus verlässt. Ich esse schweigend und weiche den geröteten Augen meiner Mutter aus, die für meinen Bruder Pfannkuchen macht.
Marco erscheint in der Tür.
»Heute Nacht hab ich was Komisches geträumt.« Er hat noch seinen Schlafanzug an und räkelt sich ausgiebig, wie Black nach einer Portion Katzenfutter.
»Was hast du denn geträumt?«, frage ich ihn.
»Da war ein weißes Kaninchen. Es hat mir gesagt, ich soll aufpassen.«
»Und dann?«
»Daran erinnere ich mich nicht mehr. Worauf soll ich aufpassen, Scarlett?«
»Denk nicht mehr daran, das war nur ein böser Traum.«
Einen Augenblick lang sehe ich dieses Wesen mit den roten Augen vor mir, das mich vor ein paar Tagen kurz vor dem Aufwachen heimgesucht hat. Ein Albtraum, der ebenso schrecklich wie real war.
Marco setzt sich hin, und Mama legt ihm die Pfannkuchen auf den Teller. Er trinkt einen Schluck Milch und fängt an zu plappern. Seine Stimme wirkt entspannend auf mich, sie ist so klar und erfrischend wie ein Zitronenbonbon. »Heute lernen wir in der Schule bis hundert zu zählen.«
Ich stehe auf und zerzause ihm die Haare: »Sehr gut, Marcolino.«
»Du sollst mich nicht so nennen!«
Der Himmel ist bleigrau, vielleicht wird es regnen. Ich erreiche die Schule in etwa zehn Minuten. Kaum habe ich den Schulhof betreten, da sehe ich, wie mir Umberto mit finsterem Gesicht entgegenkommt. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, wird mir klar, dass ich ihn seit Tagen nicht gesehen habe.
»Wie geht’s dir? Es ist eine Weile her, dass wir …«
»Wie schön, dass du mein Fehlen bemerkt hast. Es war nichts Schlimmes, nur ein bisschen Halsschmerzen, und meine Eltern wollten, dass ich lieber ein paar Tage zu Hause bleibe.« Er sieht blass aus und hat wohl ein wenig abgenommen. Den Umberto, den ich kenne, entdecke ich erst, als er lächelt und die beiden Grübchen in seinen Wangen erscheinen. Seine Augen strahlen.
Unsere Unterhaltung wird einen Moment lang von Motorengeräusch überdeckt.
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