Scarlett – Die Liebe hat Augen wie Eis, der Tod hat Augen wie Feuer: Roman
dem Flur biege ich links um die Ecke, wie es in dem kleinen Plan eingezeichnet war. Vergeblich versuche ich die Angst zu ignorieren, meine ständige und lästige Begleiterin.
»Pass doch auf, wo du hinläufst!«, schreit eine schrille Stimme. Jemand rammt meine Schulter, kreischendes Gelächter ertönt um mich herum, und Sally, meine Sternenkugel, fliegt mir aus der Hand. Sofort greift jemand nach ihr, und ich schaue auf.
»Entschuldige, ich war mit meinen Gedanken ganz woanders«, sage ich automatisch. Vor mir steht ein Mädchen, das geradewegs dem Cover eines Hochglanzmagazins entstiegen sein könnte. Sie ist ungefähr zehn Zentimeter größer als ich. Hautenge Jeans und eine weiße Bluse, an der die obersten beiden Knöpfe ganz bewusst offen gelassen wurden, bringen ihre Figur eines Pin-up-Girls noch besser zur Geltung. Sie hat lange platinblonde Haare, und ihre Lippen glänzen purpurrot. Ihr strahlendes Lächeln enthüllt blendend weiße Zähne.
»Du solltest besser aufpassen, wo du hintrittst.«
»Ich habe mich doch schon bei dir entschuldigt. Könnte ich meine …«, ich verstumme. ›Meine Sternenkugel‹ zu sagen kommt mir reichlich kindisch vor, und zuzugeben, dass ich einen Glücksbringer mit mir herumtrage, ist sicher mindestens ebenso uncool. Daher beschränke ich mich darauf, einfach nur auf Sally zu zeigen, die sie mit ihren perfekt manikürten Fingernägeln festhält.
»Du möchtest dein Gummibällchen wiederhaben?«, fragt Lavinia. Ihren Namen erfahre ich, weil eines der Mädchen, die um sie herumschwirren und an ihren Lippen zu hängen scheinen, sie so nennt, ehe sie laut loskichert.
Oberpeinlich! Ich sehe mich um und suche fieberhaft nach einer schlagfertigen Bemerkung, mit der ich mich aus der Verlegenheit retten könnte, doch ich sehe nur in lauter spöttische Augen. Diese Mädchen sind topmodisch gekleidet, duften nach Parfüm und sind so geschminkt, wie ich das niemals hinbekäme. Angesichts ihrer offenkundigen Perfektion fühle ich mich unwohl.
»Ja«, stammele ich verlegen.
Als Antwort wirft Lavinia Sally dem Mädchen mit den langen schwarzen Haaren zu, das neben mir steht.
»Bitte, könnte ich sie wiederhaben?« Ich versuche ruhig zu bleiben, obwohl das gar nicht so leicht ist. Meine Wangen röten sich, und meine Hände schwitzen.
Das schwarzhaarige Mädchen wirft Sally einem anderen Mädchen mit einer sorgfältig geföhnten goldblonden Mähne zu, deren Locken sich so schön einrollen und nach Vanille duften wie Zuckerkringel. Da greift ein muskulöser Arm ins Geschehen ein, schnappt sich die Kugel, und eine dunkle Männerstimme löst die gespannte Situation auf: »Lavinia, wie ich sehe, lässt du keine Gelegenheit aus, um dich in Szene zu setzen.«
»Umberto, was für eine Freude. Du hingegen lässt keine Gelegenheit aus, den Ritter für hoffnungslose Fälle zu spielen«, antwortet Lavinia, dreht sich auf dem Absatz um und verschwindet, gefolgt von den anderen.
»Das hier gehört wohl dir.« Der Junge reicht mir Sally.
Schnell nehme ich die Kugel und lasse sie hinten in einer Tasche meiner Jeans verschwinden. Er hat wunderschöne schlanke Hände, das ist das Erste, was mir auffällt, auch weil ich mich noch nicht getraut habe, hochzuschauen. »Danke«, flüstere ich und hebe den Kopf, um ihm in die Augen zu sehen.
Gar nicht so übel, der Typ. Breite Schultern und der drahtige Körper eines Sportlers. Er hat braune Augen und Haare und ein unwiderstehliches Lächeln. Wenn es auf seinem Gesicht erscheint, bilden sich zwei Grübchen in den Wangen, und seine Augen leuchten noch intensiver.
»Ich heiße Umberto.«
»Scarlett.« Ich schüttele ihm energisch die Hand. Meine Großmutter sagt immer, dass ein kräftiger Händedruck wichtig ist, weil einen sonst keiner ernst nimmt. Sie sagt, es sei ein Zeichen für Aufrichtigkeit und Charakterstärke.
»Du hast einen wunderschönen Namen, Scarlett. Bist du neu hier? Ich würde mich bestimmt erinnern, wenn du mir schon mal über den Weg gelaufen wärst.« Er lächelt wieder und sieht mir tief in die Augen.
Ich werde rot. »Ja. Ich bin erst vor Kurzem umgezogen. Eigentlich wäre heute mein erster Tag in der elften Klasse in Cremona, und stattdessen bin ich hier, eine Fremde in Feindesland.« Seit ich meinen geliebten Glücksbringer zurückhabe, ist mir auch wieder nach Scherzen zumute, auch wenn es mir immer noch einen Stich ins Herz versetzt, von meiner Heimatstadt zu sprechen.
»Stets zu deinen Diensten, um dir diese Gegend weniger
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