Scarlett – Die Liebe hat Augen wie Eis, der Tod hat Augen wie Feuer: Roman
es ja auch schon, mein neues Gymnasium, es heißt San Carlo, weil es auf den Ruinen eines gleichnamigen Klosters erbaut wurde. Eine Privatschule mitten in einem Park mit uralten Bäumen. Ich muss zugeben, als ich zum ersten Mal dort hinkam, war ich schon ziemlich beeindruckt, allerdings hatte ich auch eine leichte Gänsehaut.
Ich rücke die Träger meines Rucksacks rechts und links auf meinen Schultern zurecht. Noch nie habe ich mich so uncool gefühlt. Wahrscheinlich bin ich in ganz Italien, ach, was sag ich da, auf der ganzen Welt die Einzige, die ihren Schulrucksack noch auf diese Weise trägt. Und das bloß wegen meiner Grundschullehrerin und ihren Vorträgen über die Folgeschäden von falscher Haltung, außerdem hatte ich als kleines Mädchen eine leichte Rückgratverkrümmung. Mein Rücken ist mir wichtig! Selbst wenn mir das vor meinen Mitschülern leicht peinlich sein sollte. Aber vielleicht bemerken sie es nicht einmal. Oh mein Gott, mir wird klar, dass mir bloß Unsinn durch den Kopf geht. Ich streiche meine Haare hinter die Ohren und suche wieder nach dem entschlossenen Gesichtsausdruck, den ich schon heute Morgen vor dem Spiegel nicht finden konnte.
Wie gern wäre ich selbstsicherer und würde die Klasse mit einem breiten Lächeln auf den Lippen betreten, den Kopf hoch erhoben und mit kerzengeradem Rücken, auch ohne die Hilfe meines Rucksacks. Stattdessen schaue ich auf den Boden, lege viel (zu viel?) Wert auf das Urteil anderer und halte mich für eine unbedeutende graue Maus.
Ich bin da. Ein kleiner Spaziergang am frühen Morgen war genau das Richtige, um meine Nerven zu beruhigen. Aber wen will ich damit täuschen? Ich bin angespannt wie ein Flitzebogen und habe ein flaues Gefühl im Magen. Plötzlich habe ich meinen Platz in der Bankreihe in Cremona vor Augen, der dieses Jahr leer bleiben wird, und meine Augen füllen sich mit Tränen. Ich schlucke einmal heftig und schaue nach oben, um sie zurückzudrängen. Komm schon, Scarlett!
Der Schulhof ist voller Schüler, fremde Gesichter, die einander überlagern. Ein großes Durcheinander, Geschrei und Gelächter. Freunde, die sich nach den Sommerferien zum ersten Mal wiedersehen, und ein paar Eltern von Schülern im ersten Jahr, die ihre schüchternen Sprösslinge bis zur Haupttreppe begleiten. Ich gehe zu den Aushängen in der Eingangshalle. Ich bin in der Elf Z, Zett wie Zorro, der Held mit der Maske. Und was bin ich? Eine unbeholfene Heldin ganz ohne Maske oder Ruhm. Ich schiebe mich durch eine verschlafene Schülermasse zu den Treppen, die in den dritten Stock hinaufführen. In einem mir noch unbekannten Klassenraum im linken Flur wird mein neues Leben beginnen.
3
I ch blicke nach unten, sodass meine Haare mein Gesicht bedecken wie ein Schild, hinter dem ich mich verstecken kann. Ich halte mich am Handlauf fest und nehme immer zwei Stufen auf einmal, mit der anderen Hand umklammere ich meinen Glücksbringer. Früher oder später werde ich mich wohl entschließen, ihn ganz nach hinten in eine Schublade zu verbannen, ich bin schließlich kein Kind mehr. Aber noch ist es nicht so weit, und heute spüre ich mehr denn je das Bedürfnis, meine Hand um die mir so vertraute Sternenkugel zu schließen. Eigentlich ist es nur ein ganz gewöhnlicher Gummiball, ein Flummi von der Sorte, die extrem hoch springen, wenn man sie kräftig auf den Boden wirft. Gewöhnlich für andere, aber nicht für mich.
»Wenn es dir schlecht geht oder wenn du traurig bist, drück diese Kugel ganz fest. Das ist dann so, als würdest du die Sterne berühren, das ist dein ganz persönlicher Himmel in Griffweite, der alles viel klarer erscheinen lässt«, hat mir Oma Evelyn an jenem längst vergangenen Tag gesagt, als sie sie mir feierlich überreichte. Damals muss ich sechs Jahre alt gewesen sein, nicht viel älter, meine verstrubbelten blonden Haare verfilzten sich in den Spitzen, und ich blickte mit zwei riesigen Augen neugierig auf die Welt. Mein Monat Ferien in London ging zu Ende, und es war der Moment gekommen, in dem ich Abschied nehmen musste von Oma Evelyn, von ihrem leckeren Schokoladenkuchen und ihren wunderbaren Gutenachtgeschichten. Ich habe diese durchscheinende Kugel gegen das Licht gehalten und die bunten Sterne betrachtet, die immer neue Muster bildeten, je nachdem, in welchem Winkel man sie hielt. Dann habe ich gelächelt, und plötzlich schien der Abschied mir nicht mehr so schlimm. Seit dem Moment sind meine Glücksbringerkugel und ich unzertrennlich.
Auf
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