Scarlett – Die Liebe hat Augen wie Eis, der Tod hat Augen wie Feuer: Roman
dich um sie?«, fragt er augenzwinkernd.
Sie wird rot und antwortet aufgeregt: »Keine Sorge, sie ist in guten Händen.« Zwei Mädchen lächeln mir zu, während wir durch die Klasse zu den einzigen beiden leeren Plätzen laufen.
»Ist das hier okay für dich?«, fragt mich Caterina.
»Aber sicher!« Vierte Reihe, neben dem Fenster. Die toskanische Sonne küsst mich durch die Scheibe und wärmt mich. Ich werfe einen Blick nach draußen in den Park und auf die Hügel im Hintergrund. Sie sehen aus wie gestürzte Schokopuddings mit Pistazienstückchen. Ich hole meinen Kalender und mein Federmäppchen aus dem Rucksack und seufze tief. Das erste Kapitel meines neuen Lebens ist geschrieben. Ich habe zwei sehr nette Menschen kennengelernt, die ersten seit dem Umzug nach Siena. Mit ein bisschen gutem Willen wird mein Trennungsschmerz nachlassen, auch wenn der Gedanke an Matteo und das, was aus uns hätte werden können, immer noch wehtut.
4
D ie große Pause sorgt für einen Moment Ruhe in der Hektik dieses emotionsgeladenen Vormittags. Caterina hat ihr Versprechen gehalten, das sie Umberto gegeben hatte, und sich auf jede erdenkliche Weise darum bemüht, dass ich mich wohl und angenommen fühle. Zwischen den Stunden hat sie keine Gelegenheit ausgelassen, mich neuen Leuten vorzustellen. All diese unbekannten Namen wirbeln nun durch meinen Kopf, zusammen mit den Namen der Lehrer und all den neuen Informationen, die ich noch nicht verdaut habe. Ich hoffe, dass ich mich an alle Namen erinnere und sie nicht durcheinanderbringe.
Fassen wir noch mal zusammen: Genziana ist das Mädchen mit der wilden roten Mähne. Sie hat zwei Dreadlocks, die sich in der Masse ihres karottenroten Haares verlieren. Die hat sie sich selbst mit der Häkelnadel gemacht, und sie stehen für die beiden geliebten Menschen in ihrem Leben: ihren Vater und die kleine Schwester. Nach ihrer Mutter habe ich sie nicht gefragt; da sie von sich aus nichts erzählt hat, schien mir das nicht angebracht. Sie ist sehr sympathisch und wirkt, als sei sie einem Dokumentarfilm aus den Siebzigern entsprungen: sportliche Figur, Sommersprossen über das ganze Gesicht und schmale grüne Augen. Sie spricht ebenso selbstverständlich über kosmische Energie wie über den Italienischlehrer oder eine Mathearbeit, sie ist Vegetarierin und glaubt fest daran, dass die Sterne unseren Alltag beeinflussen. Sie hat gesagt, dass mein Sternzeichen, Widder, ein Feuerzeichen ist. Vielleicht bin ich deswegen so impulsiv und starrköpfig; wenn ich an etwas glaube, dann bin ich sofort Feuer und Flamme dafür, und nichts kann mich davon abbringen. Da bin ich genauso stur wie meine Mutter, die Löwe ist, auch ein Feuerzeichen.
»Feuer und Feuer, da sprühen die Funken«, hat sie lächelnd erklärt und damit, ohne es zu wissen, bildlich die Situation zwischen meiner Mutter und mir beschrieben. Dann hat sie noch gemeint, dass Schüchternheit und die Sensibilität, die man mir anmerkt, typisch für Luftzeichen wären und bestimmt mit meinem Aszendenten zusammenhängen.
»Ich habe keine Ahnung, was mein Aszendent ist«, musste ich zugeben.
»Du kennst deinen Aszendenten nicht? Wie ist das möglich? Der Aszendent, oder auch der aufgehende Grad, ist das, was allgemein als ›erster Eindruck‹ bezeichnet wird. Der ist von grundlegender Bedeutung! Oder um es einfacher zu sagen, er entscheidet darüber, wie dich die anderen wahrnehmen. Wir müssen unbedingt deine Wissenslücken füllen!«
Sie hat mir versprochen, mir in den nächsten Tagen dabei zu helfen, ihn zu errechnen, und außerdem noch Mond, Sonne und einen Haufen anderer komplizierter Dinge, die an meinem Geburtstag »im Haus« gestanden hätten, wie sie das nennt.
Dann gibt es da noch Pietro mit dem gutmütigen Blick, groß, dick und schweigsam, und Lorenzo, den Schönling der Klasse, auch wenn er nicht mein Typ ist. Er ist Stürmer in der Schulmannschaft, hat tiefschwarze Augen und Haare und Schultern wie eine griechische Statue. Dann habe ich noch Laura kennengelernt, Loredana und schließlich Livio.
Livio ist dieses Jahr neu ans San Carlo gekommen, genau wie ich. Er ist schüchtern und hat ein paar Pickel zu viel. Seine Augen versteckt er hinter einer rechteckigen Brille, und auf den ersten Blick wirkt er wie der klassische Streber, der von den anderen nicht akzeptiert wird. Aber das ist nur ein erster, oberflächlicher Eindruck. Ich selbst würde total sauer werden, wenn man mich nur nach so einer spontanen Momentaufnahme
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