Scarlett – Die Liebe hat Augen wie Eis, der Tod hat Augen wie Feuer: Roman
Treppe hinunter. Er lacht und rennt in die Küche. Bevor ich nachkomme, werde ich langsamer und überkreuze abergläubisch die Finger, ich hoffe, dass meine Mutter wenigstens heute einmal gut gelaunt ist. Das wäre allerdings ein Wunder.
»Guten Morgen«, sage ich und zwinge mich zu einem Lächeln. Marco sitzt jetzt an seinem Platz neben dem Fernseher, aber von meiner Bürste keine Spur. Sicher versteckt er sie unter dem Tisch. Ich sehe ihn betont gleichgültig von oben herab an, woraufhin er mir eine seiner Grimassen schneidet. Mein Platz ist am Fenster. Von dort kann ich die Welt da draußen und die kaum wahrnehmbaren Bewegungen eines großen, einzeln stehenden Baumes beobachten, der seine Äste wie Arme nach oben streckt, als würde er sich ergeben. Ich denke darüber nach, dass ich mich genauso fühle.
»Wie siehst du denn aus? Ich dachte, du wolltest einen guten Eindruck bei deinen neuen Schulkameraden hinterlassen und wenigstens am ersten Schultag einigermaßen passabel aussehen. Siehst du nicht, dass dieses T-Shirt total ausgeblichen ist?« Mama wirkt so gehetzt wie immer. Sie lässt mir nicht einmal die Zeit, etwas darauf zu erwidern, schon fügt sie hinzu: »Jetzt muss ich doch wirklich mal deine Anziehsachen durchsehen. Du würdest ja nie etwas wegschmeißen, genau wie deine Großmutter.« Ich muss wohl nicht extra betonen, dass sie und Oma Evelyn, die Mutter meines Vaters, sich nie so recht vertragen haben. Meine Großmutter lebt von Erinnerungen, und jeder Gegenstand verkörpert eine für sie.
»Das T-Shirt habe ich letztes Jahr an meinem ersten Schultag getragen. Ich … hatte nur gehofft, dass es mir Glück bringt, das ist alles«, murmele ich. Ich schütte mir Milch und Müsli in meine Schüssel und esse mit Appetit. »Außerdem hast du es falsch gewaschen, mit deinem Spleen, dass alles bei 60 Grad in die Maschine muss.«
»Sprich nicht mit vollem Mund!«
»Außerdem ist Vintage dieses Jahr total in.« Gleich geht sie ab …
»Mach, was du willst, Scarle-tt.« Bingo! Wenn meiner Mutter der Geduldsfaden reißt, betont sie die zwei »t« am Ende meines Namens immer wie eine Drohung: Scarle-tt. Ich kann leider nicht auf dieselbe Tour kontern: Sie heißt Simona.
Ich mag meinen Namen, obwohl ich mich erst an ihn gewöhnen musste. Scarlett hieß meine Urgroßmutter. Ich habe sie nie kennengelernt, aber Oma Evelyn sagt, dass sie mir sehr ähnlich war und dass sie so gern eine Enkelin gehabt hätte, um ihr Geschichten aus ihrem langen Leben zu erzählen, Geschichten wie aus einem Roman. Als ich auf die Welt kam, war sie gerade erst ein paar Monate tot, verloschen wie eine Kerze, die von einem Leben voller turbulenter Liebesabenteuer verzehrt wurde. Ich stelle sie mir ein wenig wie eine Gothic Lady im Ruhestand vor, stets in schwarzen Kleidern und mit den extravaganten Schleiern über dem Gesicht, die sie auf den Fotos trägt.
Selbstverständlich hat sich Simona mit Händen und Füßen dagegen gesträubt, dass ich, eine hundertprozentige Italienerin, einen so exotischen Namen tragen sollte. Aber mein Vater kann sehr überzeugend sein. So wie ich ihn kenne, hat er sie bestimmt darauf aufmerksam gemacht, dass wir dann den gleichen Anfangsbuchstaben hätten. Wie auch immer, letzten Endes hat meine Mutter akzeptiert, dass ihre Erstgeborene einen Namen wie ein Hollywoodstar tragen würde.
»Und Papa?«
»Der ist schon vor einer Stunde weg.«
Seit wir nach Siena gezogen sind, macht mein Vater fast jeden Tag Überstunden und kommt gerade noch zum Schlafen nach Hause. Ich denke, so was ist wohl normal, wenn man einen neuen Job übernommen hat, zumal einen mit viel Verantwortung. Also übe ich mich in Geduld, obwohl ich eigentlich Ruhe bräuchte. Aber wenn Simona so gereizt ist und sich wegen nichts und wieder nichts aufregt, ist das gar nicht so einfach.
Die wichtigste Eigenschaft meiner Mutter ist ganz klar ihre Entschlossenheit. Die jedoch ganz schnell in Aggressivität umschlagen kann. Sie ist einen Meter sechzig groß und trägt einen Pagenkopf in ständig wechselnden Tönungen. Sie ist Friseurin mit Leib und Seele, und vor ein paar Jahren hat sie es endlich geschafft, ihren eigenen Salon aufzumachen, wobei sie ein außergewöhnliches Organisationstalent bewiesen hat. Ich kann mir schon vorstellen, dass es ihr schwergefallen ist, ihn aufzugeben! Für sie bedeutete der Umzug nach Siena, dass sie auf alles verzichten musste, was sie sich mühsam in langen Jahren aufgebaut hatte. Jetzt sind ihre Haare
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