Scarpetta Factor
Hannah beeindrucken wollen, weil sie spürte, dass die Frau sie als Rivalin empfand. Möglicherweise hatte Hannah auch einen wunden Punkt bei ihr getroffen, denn sie war gerissen genug, um ihre Mitmenschen zu durchschauen. Lucy hatte ihren eigenen Vater nie kennengelernt und wollte nun, als Erwachsene, nicht auch noch Rupe verlieren. Stets die Ehrlichkeit in Person, hatte er vom ersten Tag an ihre Finanzen verwaltet. Sie hatte ihm etwas bedeutet. Er war ihr Freund. Sicher hatte er ihr beim Abschied von diesem Leben etwas ganz Besonderes vermachen wollen, weil er sie für außergewöhnlich hielt.
»Diesen Tipp hätte er Ihnen bestimmt auch gegeben, wenn er lange genug gelebt hätte«, verkündete Hannah. Ihre Finger streiften die von Lucy, als sie ihr ihre Visitenkarte reichte. Bay Bridge Finances. Auf der Rückseite eine Telefonnummer in einer selbstbewussten geschwungenen Handschrift.
»Sie waren wie eine Tochter für ihn, und ich musste ihm versprechen, mich Ihrer anzunehmen«, fuhr Hannah fort.
Wie hatte er das von ihr verlangen können? Lucy war zu spät auf diesen Gedanken gekommen. Rupe war so plötzlich erkrankt, dass Hannah ihn vor seinem Tod in Atlanta weder gesehen noch gesprochen haben konnte. Allerdings hatte Lucy sich diese Frage erst eine neunstellige Summe später gestellt. Inzwischen war sie sicher, dass für Hannah mehr dahintersteckte als die beträchtliche Provision, die sie dafür kassierte, dass sie wohlhabende Mitmenschen zur Schlachtbank führte. Sie hatte Lucy aus reinem Mutwillen schaden, schwächen und vernichten wollen.
Der Fluglotse konnte unmöglich über Lucys finanzielle Situation im Bilde sein oder etwas über ihre Verluste und die Demütigung wissen. Sicher sah sie Gespenster und war so angespannt und übervorsichtig, dass Berger es schon als krankhaft bezeichnete. Außerdem hatte sie schlechte Laune, weil sich das seit Monaten geplante Überraschungswochenende als Reinfall entpuppt hatte. Berger hatte sich abweisend und unfreundlich verhalten und keine Gelegenheit ausgelassen, sie zu kränken. Während ihres Aufenthalts hatte sie ihr die kalte Schulter gezeigt. Und auch nach dem Start hatte sich nichts daran geändert. Auf der ersten Hälfte des Fluges hatte sie keine einzige persönliche Bemerkung von sich gegeben und die zweite Hälfte damit verbracht, mit dem Bord-Mobiltelefon SMS zu verschicken, in denen es um Carley Crispin, gelbe Taxis und alle möglichen anderen Dinge ging, die immer auf dasselbe leidige Thema hinausliefen: Hannah. Sie hatte von Bergers Leben Besitz ergriffen und damit Lucy wieder etwas weggenommen. Diesmal etwas, das sich nicht ersetzen ließ.
Lucy warf einen Blick auf den Tower, dessen verglaste Kuppel strahlte wie ein Leuchtturm. Sie stellte sich vor, wie ihr Feind, der Fluglotse, vor einem Radarschirm saß und Punkte und Codenummern betrachtete, die für wirkliche Menschen in echten Flugzeugen standen. Alle taten ihr Bestes, um sie wohlbehalten ans Ziel zu bringen, während dieser Idiot nur Befehle und Beleidigungen blaffte. Scheißkerl! Sie wollte ihn sich vorknöpfen. Oder sich ein anderes Opfer suchen.
»Wer hat meinen Karren rausgerollt und ihn in Windrichtung gestellt?«, fragte sie den erstbesten Mitarbeiter des Bodenpersonals, der ihr im Verwaltungsgebäude über den Weg lief.
»Sind Sie sicher?« Der junge Mann war mager und pickelig und trug einen viel zu großen, gefütterten Overall. Die Stäbe zum Einwinken der Maschinen ragten aus den Taschen seiner Arbeitsjacke von Dickies. Er konnte ihr nicht in die Augen schauen.
»Ob ich sicher bin?«, wiederholte sie, als hätte sie ihn nicht verstanden.
»Wollen Sie mit meinem Vorgesetzten sprechen?«
»Nein, ich will nicht mit Ihrem Vorgesetzten sprechen. Das ist jetzt schon das dritte Mal innerhalb der letzten zwei Wochen, dass ich hier mit Rückenwind landen musste, F. J. Reed.« Sie hatte sein Namensschild gelesen. »Wissen Sie, was das bedeutet? Es heißt, dass derjenige, der meinen Karren aus dem Hangar rollt, ihn so auf der Rampe ausrichtet, dass die Zugstange in die falsche Richtung zeigt, und zwar genau in Windrichtung, sodass ich mit Rückenwind landen muss.«
»Das war ich nicht. Ich würde niemals einen Karren in Windrichtung ausrichten.«
»Haben Sie überhaupt eine Ahnung von Aerodynamik, F. J. Reed? Flugzeuge – und das Gleiche gilt auch für Hubschrauber – starten und landen gegen den Wind, nicht mit dem Wind im Rücken. Seitenwinde können auch ganz schön lästig sein.
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