Scarpetta Factor
etwas Schlimmes passiert.«
»Wo bist du? In TriBeCa?« Lucy schlängelte sich zwischen den Tragflächen abgestellter Flugzeuge hindurch.
»Bin vor ein paar Minuten auf dem Weg in die Innenstadt bei Hollywoods Wohnung vorbeigefahren. Schien zu Hause zu sein. Eine gute Nachricht. Vielleicht kreuzt er ja auf«, sagte Marino.
»Du solltest ihn bewachen, um sicherzugehen, dass er auch wirklich kommt. So lautete unsere Abmachung.« Lucy hasste es, sich auf andere Leute verlassen zu müssen. Das verdammte Wetter. Wenn sie nur früher gelandet wäre! Dann hätte sie Hap Judd selbst beschatten und dafür sorgen können, dass er das Treffen nicht verpasste.
»Ich habe im Moment Wichtigeres zu tun, als Babysitter für einen Perversen zu spielen, der sich für den neuen James Dean hält. Ruf mich an, falls du umgeleitet wirst und dich verfährst, Amelia Earhart.«
Lucy beendete das Telefonat, ging schneller, überlegte, ob sie sich bei ihrer Tante melden sollte, und dachte dann an die Nummer auf ihrem Schreibbrett. Ob es ratsam war, den Vorgesetzten des Fluglotsen noch vom Flugplatz aus anzurufen? Vielleicht war es auch sinnvoller, bis morgen zu warten und den Leiter des Towers oder, noch besser, die Flugsicherungsbehörde zu verständigen, damit der Kerl in einen Auffrischungslehrgang gesteckt wurde. Beim Gedanken an seine Äußerungen auf der Frequenz des Towers kochte sie vor Wut. Alle hatten mithören können, dass er ihr Inkompetenz vorwarf und ihr unterstellte, sie kenne sich nicht auf einem Flugplatz aus, den sie mehrmals in der Woche anflog.
Schließlich standen ihr Helikopter und ihr Citation-X-Jet hier im Hangar. Möglicherweise war das ja der Grund für seine Unverschämtheit. Er wollte sie zurechtstutzen und ihr unter die Nase reiben, dass er die Gerüchte über die Verluste kannte, die sie angeblich in der größten Finanzkrise seit den Dreißigern gemacht hatte. Allerdings hatte nicht der Bankenkrach an der Wall Street den meisten Schaden angerichtet, sondern Hannah Starr. Ein Gefallen, ein Geschenk, das ihr Vater Rupe Lucy zugedacht hatte. Eine Abschiedsgeste. Als Hannah ihre Beziehung mit Bobby begann, hatte sie nichts anderes zu hören bekommen als Lucy hier, Lucy da.
»Für ihn waren Sie Einstein. Ein hübscher Einstein, aber ein Mädchen, an dem ein Junge verlorengegangen ist«, hatte Hannah vor knapp sechs Monaten Lucy gegenüber geäußert.
War das Anmache oder Spott gewesen? Lucy konnte nicht sagen, was in Hannah vorging, was sie wusste oder was sie nur vermutete. Rupe war über Lucys Leben im Bilde gewesen, so viel stand fest. Eine Brille mit dünnem Goldgestell, flaumiges weißes Haar, trübe blaue Augen, ein zierlicher Mann, der stets ordentliche Anzüge trug und ebenso ehrlich war wie klug. Ihn scherte es einen Dreck, mit wem Lucy ins Bett ging, solange diese Leute sich nicht von ihr aushalten ließen und ihr auch sonst keine übermäßigen Kosten verursachten. Er konnte verstehen, warum Frauen Frauen liebten, denn schließlich teilte er diese Schwäche. Einmal hatte er zu ihr gemeint, wenn er eine Frau gewesen wäre, wäre er wahrscheinlich auch lesbisch geworden, weil ihn Frauen so sehr anzogen. Außerdem spielten Kategorien wie diese keine Rolle, weil es nur auf das Herz eines Menschen ankäme. Immer lächelte er. Ein gütiger, anständiger Mensch und der Vater, den Lucy nie gehabt hatte. Als er im letzten Mai während einer Geschäftsreise einer Salmonelleninfektion erlegen war, hatte Lucy es erst nicht fassen können und war am Boden zerstört gewesen. Konnte ein Mann wie Rupe wirklich an einer Jalapeno-Peperoni sterben? Hing das menschliche Leben tatsächlich nur von der banalen Entscheidung ab, ob man sich eine Portion Nachos bestellte?
»Wir vermissen ihn schrecklich. Er war mein Mentor und mein bester Freund.« Das war im vergangenen Juni gewesen. Auf Hannahs Balkon, als sie den Millionen von Dollar teuren Booten nachblickte, die dröhnend vorbeibrausten. »Sie haben mit seiner Hilfe gut verdient. Ich werde für Sie noch mehr Profit rausholen.«
Lucy hatte dankend abgelehnt, und zwar mehr als einmal. Ihr gefiel die Vorstellung nicht, Hannah Starr ihr gesamtes Portfolio zu überlassen. Das käme überhaupt nicht in Frage, hatte sie ihr höflich erklärt. Wenigstens in diesem Punkt hatte sie auf ihren Bauch gehört. Doch sie hätte, was den fraglichen Gefallen betraf, ihrer inneren Stimme vertrauen sollen. Lass die Finger davon . Aber Lucy hatte es dennoch getan. Vielleicht hatte sie
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