Scarpetta Factor
Gefühl, dass ich bald jemanden ins Gefängnis stecken werde«, erwiderte Berger.
»Ich bin unschuldig.«
Das mochte durchaus sein, doch sehr hilfsbereit war er auch nicht gewesen. Berger hatte ihm fast drei Wochen gegeben, um zu kooperieren. Drei Wochen waren eine lange Zeit, insbesondere dann, wenn jemand vermisst wurde, vielleicht entführt worden war oder womöglich sogar nicht mehr lebte. Allerdings war die wahrscheinlichere Alternative, dass die gesuchte Person gerade in Südamerika, auf den Fidschi-Inseln, in Australien oder sonst irgendwo in eine neue Identität schlüpfte.
»Und das ist noch nicht das Schlimmste«, sagte Lucy zu ihm und starrte ihn aus grünen Augen an. Ihr kurzes Haar schimmerte rotgolden im Schein der Deckenbeleuchtung. Sie war sprungbereit wie eine exotische Katze. »Ich wage gar nicht, mir auszumalen, was die anderen Häftlinge mit einem perversen Dreckskerl wie Ihnen machen werden.« Sie öffnete ihr E-Mail-Programm und fing an zu tippen.
»Wissen Sie was? Ich stand kurz davor, die Verabredung platzen zu lassen. Sie ahnen ja gar nicht, wie nah dran ich war, nicht zu kommen«, sagte er zu Berger. Allerdings hatte das Wort »Gefängnis« seine Wirkung nicht verfehlt, denn seine Selbstgefälligkeit war verschwunden, und er starrte ihr auch nicht mehr auf den Busen. »So einen Scheiß muss ich mir nicht anhören«, fuhr er, inzwischen ohne eine Spur von Haltung, fort. »Ich werde nicht weiter hier rumsitzen und mir Ihren bescheuerten Mist antun.«
Er unternahm jedoch keine Anstalten, aufzustehen. Sein Bein in der ausgewaschenen Jeans wippte, das weite weiße Hemd wies Schweißränder unter den Achseln auf. Berger konnte sehen, wie sich seine Brust beim Atmen bewegte. Ein ungewöhnlich geformtes silbernes Kreuz an einem Lederriemen hüpfte bei jedem flachen Atemzug unter der weißen Baumwolle. Seine Hände umklammerten die Armlehnen. Ein protziger Ring mit einem Totenschädel funkelte. Seine Muskeln waren angespannt, am Hals traten die Venen hervor. Er musste sitzen bleiben, denn er konnte sich diesem Gespräch genauso wenig entziehen, wie es möglich war, den Blick von einem Zug abzuwenden, der jede Minute entgleisen würde.
»Wissen Sie, wer Jeffrey Dahmer war?«, sagte Lucy, ohne von der Tastatur aufzublicken. »Erinnern Sie sich, was mit dem perversen Scheißer passiert ist? Was die anderen Häftlinge mit ihm gemacht haben? Sie haben ihn mit einem Besenstiel erschlagen. Vielleicht haben sie den Besenstil vorher noch zu etwas anderem benutzt. Er stand übrigens auf das gleiche kranke Zeug wie Sie.«
»Jeffrey Dahmer? Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?« Judds Lachen war zu laut. Eigentlich war es gar kein Lachen. Er hatte Angst. »Die spinnt doch«, wandte er sich an Berger. »Ich bin nie im Leben gewalttätig geworden. Ich misshandle keine anderen Leute.«
»Das heißt wohl bis jetzt «, entgegnete Lucy. Inzwischen zeigte ihr Bildschirm wieder die Straßenzüge einer Stadt an, als wolle sie eine Route herausfinden.
»Ich weigere mich, weiter mit ihr zu reden«, sagte Judd zu Berger. »Sie ist mir unsympathisch. Schicken Sie die blöde Kuh weg, oder ich verschwinde.«
»Was halten Sie davon, wenn ich Ihnen eine Liste der Leute gebe, die Sie misshandelt haben?«, schlug Lucy vor. »Angefangen bei der Familie und den Freunden von Farrah Lacy.«
»Keine Ahnung, wer das sein soll. Ficken Sie sich doch ins Knie!«, zischte er.
»Wissen Sie, was auf schwere Körperverletzung mit Vorsatz steht?«, erkundigte sich Berger.
»Ich habe nichts getan. Ich habe niemanden verletzt.« »Bis zu zehn Jahre Gefängnis. So sieht die Sache aus.« »In Einzelhaft, zu Ihrem eigenen Schutz«, ergänzte Lucy, ohne auf Bergers Zeichen zu achten, sie solle sich zurücknehmen. Inzwischen war eine andere Karte auf ihrem Bildschirm erschienen.
Berger erkannte grüne Flächen, die für Parks standen. Blaue Flächen symbolisierten Wasser. Das Gebiet war von zahlreichen Straßen durchzogen. Bergers BlackBerry gab einen Signalton von sich. Jemand hatte ihr gerade eine E-Mail geschickt. Kurz vor drei Uhr morgens.
»Einzelhaft. Wahrscheinlich in Fallsburg«, fuhr Lucy fort. »Dort ist man prominente Häftlinge gewohnt. Denken Sie an den Son of Sam . Attica ist nicht zu empfehlen. Da wurde ihm nämlich die Kehle durchgeschnitten.«
Die E-Mail war von Marino:
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