Scarpetta Factor
präzise und akkurat beschrieben. Sie habe ausgesehen wie gedruckt.«
»Die Person, die die Adresse geschrieben hat, hat eine ruhige Hand und besitzt möglicherweise künstlerische Begabung«, sagte Scarpetta. Sie spürte, dass er an etwas anderes dachte.
Dodie Hodge hatte ihm einen Anlass geliefert, sich mit der Handschrift auf dem Paket zu beschäftigen.
»Bist du sicher, dass es kein Laserausdruck war?«, erkundigte sich Benton.
»Ich hatte im Aufzug ziemlich viel Zeit, sie mir anzuschauen. Schwarze Tinte. Ein Tuscheschreiber. Die Buchstaben wiesen so viele Abweichungen auf, dass die Adresse zweifellos mit der Hand geschrieben worden sein muss«, erwiderte sie.
»Hoffentlich ist von dem Paket noch etwas übrig, wenn wir nach Rodman’s Neck kommen. Der Lieferschein könnte unser bester Hinweis sein.«
»Falls wir Glück haben«, meinte sie.
Sie würden wirklich eine Menge Glück brauchen. Vermutlich würde das Bombenentschärfungskommando die mögliche Sprengkraft des FedEx-Pakets mit Hilfe einer Wasserkanone testen, die, angetrieben von einer speziellen zwölfkalibrigen Patrone, einen Schwall von neun bis zwölf Millilitern Wasser abschoss. Das wichtigste Ziel würde die Energiequelle des mutmaßlichen Sprengsatzes sein, also die kleinen Batterien, die beim Röntgen entdeckt worden waren. Scarpetta konnte nur hoffen, dass sich diese Batterien nicht unmittelbar hinter der handgeschriebenen Adresse auf dem Lieferschein befanden. Falls doch, würden sie später am Vormittag nur noch Pappmaché zu sehen bekommen.
»Wir können das Thema allgemein erörtern«, schlug Benton vor, setzte sich ein Stück auf und klopfte einige Kissen zurecht. »Du weißt ja, was eine Borderline-Erkrankung ist. Ein Mensch, dessen Ich-Grenzen Brüche oder Risse aufweisen, kann unter Druck aggressiv und gewalttätig reagieren. Aggressivität hat etwas mit Konkurrenz zu tun. Man rivalisiert um einen Mann, eine Frau, die Person, die sich am besten zur Fortpflanzung eignet. Man kämpft um lebensnotwendige Dinge wie Nahrung oder Unterkunft und um die Macht, weil es ohne Hierarchie keine gesellschaftliche Ordnung geben kann. Mit anderen Worten, aggressives Verhalten tritt immer dann auf, wenn es sich lohnt.«
Scarpetta dachte an Carley Crispin und ihr verschwundenes BlackBerry. Seit Stunden grübelte sie nun schon über das BlackBerry nach, und die Angst krampfte ihr das Herz zusammen, ganz gleich, was sie gerade tat. Selbst während sie und Benton sich geliebt hatten, hatte sie Furcht empfunden. Außerdem hätte sie sich ohrfeigen können und wusste nicht, wie Lucy die Nachricht aufnehmen würde, dass sie sich leichtsinnig verhalten hatte. Wie hatte sie nur so dumm sein können?
»Leider nehmen diese aus der Urzeit stammenden Triebe, die dazu beitragen, das Überleben einer Art zu sichern, zuweilen auch krankhafte, nicht der jeweiligen Situation entsprechende Züge an und werden dann auf eine unangemessene und schädliche Weise ausagiert«, fuhr Benton fort. »Denn wenn wir die Sache nüchtern betrachten, bringt es dem Aggressor keinerlei Vorteile, eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens, wie du eine bist, zu belästigen und zu bedrohen. Das Ergebnis ist nämlich Bestrafung und der Entzug sämtlicher Dinge, um die es sich zu konkurrieren lohnt, ganz gleich, ob der Täter in der Psychiatrie oder im Gefängnis landet.«
»Also muss ich davon ausgehen, dass die Frau, die mich heute Abend bei CNN angerufen hat, an einer Borderline-Persönlichkeitsstörung leidet, gefährlich werden kann, wenn man sie unter Druck setzt, und mit mir um den Mann, das heißt um dich, kämpft«, fasste Scarpetta zusammen.
»Sie hat dich angerufen, um mich zu belästigen, und es hat geklappt«, erwiderte er. »Sie will meine Aufmerksamkeit erzwingen. Eine Borderline-Persönlichkeit liebt negative Bestätigung und braucht es, das Auge des Sturms zu sein. Wenn dann noch einige andere bedauerliche Persönlichkeitsstörungen hinzukommen, wird aus dem Auge des Sturms möglicherweise ein ausgewachsener Orkan.«
»Übertragung. Deine Patientinnen haben alle nicht die geringste Chance bei dir. Und sie wollen, was ich habe.«
Sie sehnte sich danach, noch einmal von ihm geliebt zu werden, und nach seinen Zärtlichkeiten. Scarpetta hatte keine Lust mehr, über die Arbeit, über Probleme und über bedrohliche Menschen zu sprechen. Sie wollte ihm ganz nah sein und spüren, dass alles erlaubt war. Ihre Gier nach Nähe war deshalb so unersättlich, weil sie niemals
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