Scarpetta Factor
gestillt werden würde. Benton hatte ihr nie ihre Wünsche erfüllt – der Grund, warum sie ihn immer noch so heftig begehrte. Gerade deshalb hatte sie sich von Anfang an von ihm angezogen gefühlt, eine unbeschreibliche Sehnsucht schon bei ihrer ersten Begegnung gespürt. Nun, zwanzig Jahre später, hatte sich nichts daran geändert. Es war eine verzweifelte Begierde, die Besitz von ihr ergriff und Leere in ihr auslöste. Sex mit ihm war ein Kreislauf des Gebens und Nehmens, des Füllens und des Leerens und des erneuten Justierens eines Mechanismus, damit es wieder von vorn losgehen konnte.
»Weißt du, dass ich dich liebe?«, flüsterte sie, wobei ihre Lippen seine berührten. »Sogar, wenn ich wütend bin.«
»Die Wut wirst du niemals loswerden. Und ich hoffe, dass du mich immer lieben wirst.«
»Ich möchte es verstehen.« Doch dazu würde es wahrscheinlich nie kommen.
Wie immer, wenn Erinnerungen in ihr hochstiegen, wollte ihr nicht in den Kopf, warum er sich so entschieden und sie aus heiterem Himmel und endgültig verlassen hatte, ohne jemals nach ihr zu sehen. Sie wäre dazu niemals in der Lage gewesen, aber sie wollte das Thema nicht wieder anschneiden.
»Ich weiß, dass ich dich immer lieben werde.« Sie küsste ihn und legte sich auf ihn.
Sie suchten eine bequeme Körperhaltung und ahnten intuitiv, wie sie sich bewegen mussten. Die Tage, in denen sie berechnet hatten, wann die Schallmauer erreicht war und Erschöpfung oder ein unangenehmes Gefühl einsetzen würde, waren längst vorbei. Scarpetta kannte sämtliche abgedroschenen Witze darüber, dass ihre Anatomiekenntnisse im Bett doch sicher von Vorteil seien, was nicht nur albern, sondern geschmacklos war. Fast alle ihre Patienten waren tot, weshalb man ihre Reaktionen auf ihre Berührungen vernachlässigen konnte. Allerdings bedeutete das nicht, dass sie im Autopsiesaal nicht etwas Wichtiges gelernt hätte. Die Arbeit dort hatte ihre Sinne geschärft, sodass sie inzwischen die feinsten Nuancen an Menschen sah, erschnupperte und erspürte, die nicht mehr sprechen konnten. Widerwillige Zeugen, die sie brauchten, aber nicht in der Lage waren, etwas zurückzugeben. Dem Autopsiesaal hatte sie kräftige zupackende Hände und starke Gelüste zu verdanken. Sie wollte Wärme und Zärtlichkeit. Sie wollte Sex.
Danach schlief Benton tief und fest. Er rührte sich nicht, als sie aufstand. Scarpettas Gedanken überschlugen sich wieder, und Ängste und Zorn meldeten sich zurück. Es war kurz nach drei Uhr morgens. Sie hatte einen langen Tag vor sich, der sich als einer jener entpuppen würde, die sie stets als »ohne Drehbuch« bezeichnete. Zuerst zu den Bombenentschärfern nach Rodman’s Neck, um ihre mutmaßliche Bombe in Augenschein zu nehmen. Dann vielleicht ins Labor und anschließend ins Büro, wo sie Autopsieberichte diktieren und ihre Telefonate und den Papierkram abarbeiten wollte. Autopsien waren nicht angesetzt, doch das konnte sich jederzeit ändern und hing davon ab, ob ein Kollege durch Abwesenheit glänzte oder ob eine Leiche eingeliefert wurde. Was sollte sie wegen ihres BlackBerry unternehmen? Möglicherweise hatte Lucy ihr ja geantwortet. Und was sollte sie mit ihrer Nichte anfangen, die sich in letzter Zeit so seltsam, aufbrausend und ungeduldig verhielt? Hinzu kam die Sache mit den Hightech-Telefonen. Sie hatte sie einfach verteilt, ohne die anderen um ihr Einverständnis zu bitten, so als handle es sich um ein großzügiges Geschenk. Du solltest dich wieder hinlegen und dich ausruhen. Wenn man müde ist, macht man aus jeder Mücke einen Elefanten , sagte sich Scarpetta. Allerdings war Schlafen im Moment keine Alternative. Sie hatte viel zu erledigen und musste das Gespräch mit Lucy hinter sich bringen. Erzähl ihr, was du angestellt hast. Gestehe ihr, wie dumm ihre Tante Kay ist .
Vermutlich war Lucy der technisch begabteste Mensch, den Scarpetta je kennengelernt hatte. Schon als Kleinkind hatte das Innenleben von Gegenständen ihre Neugier geweckt, und sie hatte alles, was sie in die Finger bekam, auseinandergeschraubt und wieder zusammengesetzt, in der festen Überzeugung, dass das Gerät anschließend besser funktionierte. Dieses Talent, verbunden mit starken Minderwertigkeitskomplexen und dem Drang, andere zu beherrschen und nach ihrer Pfeife tanzen zu lassen, hatte Lucy zu einer Zauberkünstlerin gemacht, die genauso mühelos zerstören wie aufbauen konnte. Es hing einzig und allein von ihren Beweggründen und, noch häufiger, von
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