Scarpetta Factor
handelte es sich nicht um eine Banalität, die man auf die leichte Schulter nehmen konnte. Das Problem wollte Scarpetta nicht aus dem Kopf, seit sie das Verschwinden des Telefons bemerkt hatte, und inzwischen konnte sie nicht mehr aufhören zu grübeln. Stundenlang überlegte sie nun schon, welche Daten eingespeichert waren, und versuchte sich vorzustellen, was ein Fremder wohl damit anstellen würde. Fast sehnte sie sich nach der Zeit zurück, in der ihre schlimmste Sorge gewesen war, jemand könnte in ihrem Rolodex herumschnüffeln oder ihre Berichte, Autopsieprotokolle und Fotos durchwühlen, die immer auf ihrem Schreibtisch herumlagen. Früher war die Abwehr derartiger Indiskretionen und undichter Stellen ganz einfach gewesen: ein Schloss. Streng geheime Unterlagen wurden in verschlossenen Aktenschränken aufbewahrt. Und wenn sich auf ihrem Schreibtisch etwas befand, das niemanden etwas anging, schloss sie bei Abwesenheit die Bürotür ab. Kein großer Umstand also. Man musste nur seine sieben Sinne beisammenhaben. Und den Schlüssel verstecken.
Während ihrer Zeit als Chief Medical Examiner in Virginia hatte ihre Behörde den ersten Computer angeschafft. Auch das war noch überschaubar gewesen. Scarpetta hatte keine Berührungsängste, was Neuerungen betraf, und glaubte, mit den Vor- und Nachteilen zurechtkommen zu können. Natürlich hatte es schon damals Sicherheitsmängel gegeben, doch die ließen sich aus der Welt schaffen oder vermeiden. Mobiltelefone waren in jenen Tagen noch nicht das große Thema. Man musste nur auf der Hut sein, damit man nicht mit einem Richtmikrophon belauscht wurde. Außerdem hatten einige Leute die unhöfliche und leichtfertige Angewohnheit entwickelt, lautstarke Telefonate zu führen, die jeder mithören konnte. Allerdings waren diese Gefahren nichts, verglichen mit denen, die heutzutage drohten. Die Sorgen, mit denen Scarpetta sich täglich zermürbte, ließen sich nicht mehr in Worte fassen. Inzwischen betrachtete sie die moderne Technologie nicht mehr als ihren besten Freund, weil sie zu häufig nach ihren Knöcheln schnappte. Und diesmal hatte sie womöglich eine tiefe Bisswunde davongetragen.
Scarpettas BlackBerry war der Mikrokosmos ihres beruflichen und privaten Lebens. Es enthielt die Telefonnummern und E-Mail-Adressen von Kontaktpersonen, die ziemlich ungehalten sein oder sogar in Schwierigkeiten geraten würden, wenn ein böswilliger Zeitgenosse diese vertraulichen Informationen in die Finger bekam. Scarpetta fühlte sich für die Familien und die Hinterbliebenen eines unter tragischen Umständen Verstorbenen verantwortlich. Die Überlebenden wurden gewissermaßen auch ihre Patienten, die auf Scarpetta angewiesen waren, um etwas über die Hintergründe zu erfahren. Sie riefen sie an, weil ihnen plötzlich noch etwas eingefallen war, weil sie eine Frage hatten oder weil sie, meistens an Jahrestagen und um die Weihnachtszeit, jemanden zum Reden brauchten. Die Gespräche, die Scarpetta mit den Angehörigen und Freunden führte, waren ihr heilig.
Nicht auszudenken, wenn die falsche Person, zum Beispiel ein Mitarbeiter eines Kabelsenders, die Namen dieser Menschen in Erfahrung brachte, von denen einige in medienwirksame Fälle verwickelt gewesen waren. Jemand wie Grace Darien zum Beispiel. Sie war die Letzte, mit der Scarpetta telefoniert hatte, und zwar um Viertel vor acht Uhr abends nach der Telefonkonferenz mit Berger und bevor sie sich hastig auf ihren Auftritt bei CNN vorbereitet hatte. Mrs. Darien hatte Scarpetta auf dem BlackBerry angerufen. Sie war außer sich gewesen, weil die Presse Toni Darien nicht nur namentlich erwähnt, sondern auch berichtet hatte, dass sie vergewaltigt und erschlagen worden war. Mrs. Darien war in Panik geraten und hatte nicht mehr aus noch ein gewusst. Sie hatte angenommen, ein Schlag auf den Kopf sei etwas anderes, als erschlagen zu werden, und Scarpetta war es nicht gelungen, sie zu beruhigen. Sie hatte Mrs. Darien offen und ehrlich mitgeteilt, die Presseerklärung habe nicht sie verfasst. Sie hätte sich niemals so ausgedrückt, und Mrs. Darien müsse Verständnis dafür haben, dass sie nicht weiter ins Detail gehen könne. Es täte ihr leid, doch sie dürfe den Fall nicht eingehender erörtern.
»Erinnern Sie sich noch, was ich Ihnen gesagt habe?« Während des Telefonats hatte sich Scarpetta umgezogen. »Vertraulichkeit ist sehr wichtig, weil es Einzelheiten gibt, die nur der Täter, der Gerichtsmediziner und die Polizei kennen.
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