Scarpetta Factor
ihrer momentanen Laune ab. Ungefragt die Telefone seiner Mitmenschen auszutauschen gehörte sich einfach nicht, und Scarpetta war noch immer nicht dahintergekommen, was ihre Nichte zu diesem spontanen Schritt bewogen haben mochte. Früher hätte sie sich vorher das Einverständnis ihres kleinen Teams gesichert, anstatt sich ohne Zustimmung oder Vorwarnung zur Leitwölfin aufzuschwingen. Sie würde außer sich sein, wenn sie von Scarpettas kleinem Fauxpas, ihrem Leichtsinn erfuhr. Vermutlich würde sie sagen, genauso gut könne man eine Straße überqueren, ohne nach links und rechts zu schauen, oder blindlings in den Heckrotor eines Hubschraubers laufen.
Scarpetta graute vor der Gardinenpredigt, die sie sich bestimmt einhandeln würde, wenn sie beichtete, dass sie zwei Tage nach Erhalt des BlackBerry vor Wut das Passwort deaktiviert hatte. Das hättest du auf gar keinen Fall tun dürfen, das hättest du auf gar keinen Fall tun dürfen – dieser Satz lief wie eine Endlosschleife in ihrem Kopf ab. Doch sie hatte es sattgehabt, jedes Mal das Passwort eintippen zu müssen, wenn sie das Telefon aus seinem Etui nahm. Sobald sie es zehn Minuten lang nicht benutzte, war es wieder gesperrt. Als sie sich eines Tages öfter vertippt und das Passwort sechsmal falsch eingegeben hatte, war der Schreck der Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Acht falsche Eingaben – so stand es klipp und klar in Lucys Gebrauchsanweisung –, und das BlackBerry zerstörte sich gewissermaßen selbst und löschte sämtliche gespeicherten Daten wie die Bandaufnahmen in Mission Impossible .
In ihrer Mail an Lucy, sie habe ihr BlackBerry »verlegt«, hatte sie die Sache mit dem Passwort weggelassen. Falls jemand das Smartphone an sich genommen hatte, konnte das schreckliche Folgen haben, die Scarpetta mit Grauen erfüllten. Außerdem fürchtete sie sich vor Lucy, und am allermeisten sorgte sie sich um sich selbst. Seit wann bist du so achtlos? Du hast eine Bombe in deine Wohnung gebracht und das Passwort deines Telefons deaktiviert. Was zum Teufel ist nur los mit dir? Tu etwas. Bring es in Ordnung. Erledige es. Hör auf zu grübeln.
Sie hatte Hunger, das war Teil des Problems. Ihr Magen war leer und deshalb übersäuert. Nach einem Imbiss würde sie sich gewiss besser fühlen. Außerdem hatte sie das Bedürfnis, mit den Händen zu arbeiten, eine Beschäftigung, die eine heilende Wirkung hatte. Etwas anderes als Sex. Kochen war eine aufmunternde und beruhigende Tätigkeit. Eines ihrer Lieblingsgerichte zuzubereiten und dabei auf jede Kleinigkeit zu achten würde ihr helfen, in die Normalität zurückzukehren. Entweder Kochen oder Putzen. Aber geputzt hatte sie für heute schon genug. Auf dem Weg durchs Wohnzimmer stieg ihr noch immer der Geruch von Murphy Oil Soap in die Nase. Scarpetta öffnete den Kühlschrank und unterzog den Inhalt einer Inspektion. Eine frittata , ein Omelett, doch sie hatte keinen Appetit auf Eier, Brot oder Nudeln. Etwas Leichtes und Gesundes mit Olivenöl und frischen Kräutern, insalata caprese zum Beispiel. Das war eine gute Idee. Eigentlich handelte es sich um ein Sommergericht, das es nur gab, wenn Tomaten, vorzugsweise mit der Hand gepflückt in Scarpettas eigenem Garten, Saison hatten. Aber in Städten wie Boston oder New York wimmelte es von Bioläden und Feinkostgeschäften, wo sie das ganze Jahr traditionelle Tomatensorten bekommen konnte. Saftige Black Krims, pralle Brandywines, knackige Caspian Pinks, milde Golden Eggs und süßsaure Green Zebras.
Sie nahm ein paar aus dem Korb auf der Anrichte, legte sie auf ein Schneidebrett und viertelte sie. Dann erwärmte sie frischen Büffelmozzarella auf Zimmertemperatur, indem sie ihn in einen Gefrierbeutel steckte und einige Minuten in heißes Wasser tauchte. Nachdem sie Tomaten und Käse kreisförmig auf einem Teller angeordnet hatte, gab sie Basilikumblätter und eine ordentliche Portion kaltgepresstes, unfiltriertes Olivenöl dazu. Das Ganze wurde mit einer Prise grobem Meersalz abgerundet. Sie ging mit ihrem Imbiss ins Esszimmer, das Blick nach Westen auf erleuchtete Hochhäuser, den Hudson und auf den Flugverkehr in New Jersey hatte.
Während sie den ersten Bissen Salat in den Mund steckte, öffnete sie den Browser ihres MacBooks. Zeit, sich mit Lucy auseinanderzusetzen. Vermutlich hatte sie ihr inzwischen geantwortet. Also war es wohl das Beste, den Stier bei den Hörnern zu packen und sich mit dem verlorenen BlackBerry zu befassen. Immerhin
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