Scarpetta Factor
Tonis oder Hannahs Fall vor Gericht kommt, muss sie in den Zeugenstand.«
»Sie ist nicht nur eine Freundin. Sie und ich wissen genau, was sie mir bedeutet«, entgegnete Berger hitzig. »Bestimmt ist mein Bild auf der verdammten Datenwand im RTCC erschienen, wo die ganze Welt es sehen konnte. Sie ist mehr als eine Freundin. So naiv können Sie gar nicht sein.«
»Um Ihre Persönlichkeitsrechte zu schützen, haben die Analysten Lucys Daten nicht an die Wand projiziert. Auch nichts, was mit Ihnen zusammenhängt. Wir haben uns die Daten und die Links, auf die wir gestoßen sind, nur auf einem Computerbildschirm angeschaut. Mir ist es egal, was die Menschen innerhalb ihrer vier Wände treiben, solange es nichts Ungesetzliches ist. Ich hätte auch nie damit gerechnet, dass man im RTCC so viele Informationen über Bay Bridge Finance finden würde. Die Daten stellen eine direkte Verbindung zwischen Lucy und Hannah her, was nicht heißen muss, dass Lucy an dem Betrug beteiligt war.«
»Das werden wir schon noch rauskriegen«, sagte Berger.
»Falls er es uns verrät oder überhaupt darüber im Bilde ist.« Bonnell sprach von Bobby. »Es besteht die Möglichkeit, dass er schweigt, und zwar aus denselben Gründen wie Lucy. Einige dieser schwerreichen Leute tappen völlig im Dunkeln, da sie das Anlegen und Verwalten ihrer Gelder anderen überlassen. Genau das ist den Opfern von Bernie Madoff passiert. Sie sind Opfer ihrer Ahnungslosigkeit geworden.«
»Lucy gehört zu den Menschen, die immer den Überblick behalten müssen«, erwiderte Berger. Und außerdem zu denen, die nicht so rasch lockerließen.
Bay Bridge Finance war ein Finanzdienstleister, der sich angeblich auf die Aufsplittung von Portfolios spezialisiert hatte – Holzwirtschaft, Bergbau, Ölförderung und Immobilien, auch Luxuswohnungen in Strandlage in Südflorida. Ausgehend von dem, was Berger über die Ausmaße des vor nicht allzu langer Zeit aufgedeckten betrügerischen Ponzi-Komplotts wusste, nahm sie an, dass Lucy eine Menge Geld verloren hatte. Nun plante sie, Bobby Fuller so viele Informationen wie möglich zu entlocken, und zwar nicht nur, was Hannahs Finanzen anging. Sie interessierte sich auch für ihre Affäre mit Hap Judd, der eindeutig perverse, wenn nicht gar kriminelle Vorlieben hatte. Es war an der Zeit, Bobby auf Hap und noch eine Reihe weiterer Dinge anzusprechen und ihm, was die zahlreichen Zusammenhänge betraf, auf den Zahn zu fühlen. Berger hoffte, dass er ihnen helfen konnte, und er schien bereit dazu zu sein. Als Berger ihn vor einer knappen Stunde am Mobiltelefon erreicht hatte, hatte er gesagt, er werde sich gern mit ihr und Bonnell treffen, allerdings nicht an einem öffentlichen Ort, sondern wie beim letzten Mal bei ihm zu Hause.
»Also los!«, meinte Berger zu Bonnell. Sie stiegen aus dem Zivilfahrzeug.
Draußen war es kalt und sehr windig. Dunkle Wolken jagten über den Himmel wie immer, wenn eine Front heranzog. Vermutlich war es ein Hochdrucksystem, sodass der Himmel morgen strahlend blau sein würde. »Knallblau«, wie Lucy es nannte, jedoch auch bitterkalt. Sie folgten dem Fußweg, der von der Avenue abging, bis zum gewaltigen Eingang der Villa Starr, über dem eine grünweiße Flagge mit dem Familienwappen wehte: ein sprungbereiter Löwe, ein Helm und das Motto Vive en espoir – Lebe in Hoffnung. Berger sah das als Ironie des Schicksals, denn Hoffnung war das Letzte, was sie gerade empfand.
Sie drückte auf den Knopf der Gegensprechanlage, auf dem Starr, Privatwohnung stand. Die Hände in den Manteltaschen, warteten sie und Bonnell schweigend im Wind. Die Flagge knatterte laut. Sie waren sich beide dessen bewusst, dass sie von Überwachungskameras gefilmt und ihre Worte aufgenommen wurden. Ein Riegel klickte, und die mit kunstvollen Schnitzereien verzierte Tür aus Mahagoni öffnete sich. Durch das schmiedeeiserne Gitter war eine Gestalt in der schwarzweißen Tracht einer Haushälterin zu sehen.
Nastya – wie Berger annahm – ließ sie ein, ohne sie über die Gegensprechanlage nach ihren Namen zu fragen. Offenbar hatte sie sie auf einem Überwachungsmonitor beobachtet und war darüber im Bilde, dass sie einen Termin hatten. In den Nachrichten hatte es geheißen, sie sei eine legale Einwanderin. Außerdem kursierten einige Fotos, begleitet von Gerüchten, sie erbringe noch weitere Dienstleistungen für Bobby, außer sein Essen zu kochen und sein Bett zu machen. Die Haushälterin, von der Presse inzwischen »Nasty« –
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