Scarpetta Factor
um sie aufzuspüren.
»Ich werde gleich mit der Vernehmung in der Park Avenue beginnen«, sprach sie Marino auf die Mailbox. »Deshalb kann ich wahrscheinlich nicht rangehen, wenn du mich zurückrufst. Ich bin gespannt, was ihr im Labor rausgekriegt habt.«
Ihre Stimme klang kühl, ihr Tonfall war abweisend und unfreundlich. Sie ärgerte sich über Marino und wusste nicht, was sie für Lucy empfand – Trauer oder Wut, Liebe oder Hass, und vielleicht war da noch etwas, das sich ein wenig wie ein langsamer Tod anfühlte. Zumindest stellte sich Berger das Sterben so vor. Sie malte sich aus, dass es ganz ähnlich sein musste, über den Rand einer Klippe zu stürzen und sich festzuklammern, bis einen die Kräfte verließen. Auf dem Weg in den Abgrund fragte man sich dann, wen die Schuld traf. Berger fand, dass Lucy und sie selbst beide die Verantwortung für die derzeitige Lage trugen, da sie die Wirklichkeit verdrängt und die Augen davor verschlossen hatten. Vermutlich erging es Bobby genauso. Sonst hätte er Hannah nicht jeden Tag E-Mails geschickt.
Seit drei Wochen kannte Berger nun schon die Fotos, entstanden 1996 in ebendieser Villa, die sie und Bonnell gleich betreten würden. Ihre Reaktion hatte aus einer Vermeidungsstrategie bestanden. Sie hatte sich zurückgezogen, um der Situation, mit der sie nicht umgehen konnte, zu entfliehen. Wenn sich jemand mit Halbwahrheiten und Ablenkungsmanövern auskannte, dann war es Berger. Schließlich verhörte sie tagtäglich Menschen, die logen wie gedruckt oder ein verzerrtes Bild von der Realität hatten. Allerdings hatte das nichts geändert. Ein Wissensvorsprung schützte nicht vor Leid und auch nicht davor, alles zu verlieren. Dennoch war sie bis heute Morgen unverdrossen weitergeflüchtet. Bis Bonnell sie in der Außenstelle des FBI ausfindig gemacht und ihr Informationen gegeben hatte, die ihrer Ansicht nach für die Staatsanwältin wichtig waren.
»Ich sage nur eines, bevor wir reingehen«, meinte Berger. »Ich bin weder schwach noch ein Feigling. Jahre alte Fotos zu sehen ist eine Sache. Doch was Sie mir erzählt haben, taucht die Sache in ein völlig anderes Licht. Ich hatte Grund zu der Annahme, dass Lucy Rupe Starr bereits zu Collegezeiten kannte. Aber dass sie vor nur sechs Monaten finanzielle Transaktionen mit Hannah durchgeführt hat, wusste ich nicht. Nun haben sich die Umstände geändert, und wir werden dementsprechend handeln. Ich möchte, dass Sie alles unmittelbar mithören, weil Sie mich nicht persönlich kennen. Es ist kein guter Anfang.«
»Ich wollte nicht anmaßend sein.« Das hatte Bonnell schon mehrfach beteuert. »Aber das, was Lucy in Warner Agees Hotelzimmer und in seinem Computer gefunden hat, hängt auch mit meinem Fall zusammen. Immerhin hat er sich als einer meiner Zeugen, Harvey Fahley, ausgegeben. Außerdem steht noch nicht fest, wie sich die Sache weiterentwickeln wird. Inzwischen sind eine ganze Menge Leute darin verwickelt, und es gibt Hinweis auf Zusammenhänge mit dem organisierten Verbrechen. Und da wäre auch noch dieser Franzose mit der Erbkrankheit, den Sie erwähnt haben.«
»Sie brauchen sich nicht ständig zu rechtfertigen.«
»Ich hatte wirklich nicht vor, meine Nase in Dinge zu stecken, die mich nichts angehen, oder meine Machtposition als Polizistin zu missbrauchen. Wenn ich nicht ernsthaft an Lucys Glaubwürdigkeit gezweifelt hätte, hätte ich mich nicht beim RTCC erkundigt. Doch ich musste mir Gewissheit verschaffen. Leider sind mir mittlerweile einige Dinge über sie zu Ohren gekommen. Sie war früher bei einer paramilitärischen Einheit, richtig? Außerdem ist sie beim FBI und bei der ATF rausgeflogen. Dass sie Sie im Fall Hannah Starr unterstützt, war bis jetzt nicht meine Angelegenheit. Mit Betonung auf ›bis jetzt‹, denn ich leite die Ermittlungen im Fall Toni Darien.«
»Dafür habe ich Verständnis«, antwortete Berger. Sie meinte es ernst.
»Ich wollte mich nur vergewissern«, erwiderte Bonnell. »Schließlich sind Sie die Staatsanwältin und die Leiterin der Abteilung Sexualverbrechen. Ich bin erst seit einem Jahr bei der Mordkommission, und wir haben noch nie zusammengearbeitet. Ich finde den Anfang auch nicht gelungen. Allerdings bin ich nicht bereit, einer Zeugin alles abzukaufen, ohne sie eingehend zu befragen, nur weil Sie sie privat kennen und weil sie eine Freundin von Ihnen ist. Lucy ist meine Zeugin. Also wollte ich ein paar Dinge abklären.«
»Sie ist nicht nur eine Freundin.«
»Wenn
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