Scarpetta Factor
sein Opfer nachträglich anzöge. Häufig unterliefen ihm Fehler, zum Beispiel, dass er die Kleidungsstücke verdrehte oder mit der Innenseite nach außen über die Leiche stülpte. Oder eben, wie in diesem Fall, eine Verwechslung der Socken.
»Warum hat er ihr die Uhr nicht abgenommen?«, erkundigte sich Bonnell.
»Weil sie für denjenigen, der sie ausgezogen hat, unwichtig war.« Benton betrachtete die Fundortfotos auf seinem Bildschirm und vergrößerte die BioGraph-Uhr an Tonis linkem Handgelenk. »Schmuckstücke zu entfernen – außer als Souvenir – ist nicht so sexuell erregend wie das Ablegen von Kleidung, sodass nackte Haut zu sehen ist. Doch es spielt nur eine Rolle, was der Täter selbst als symbolisch oder erotisch empfindet. Zudem hatte es der Mörder in unserem Fall nicht eilig. Nicht, wenn er die Leiche anderthalb Tage bei sich behalten hat.«
»Kay, mich würde interessieren, ob dir je ein Fall untergekommen ist, in dem jemand erst seit acht Stunden tot war und es dennoch den Eindruck erweckte, als wäre seit dem Mord mindestens fünfmal so viel Zeit vergangen.« Berger war nicht bereit, von ihrer Position abzurücken, und tat ihr Bestes, um der Zeugin Fangfragen zu stellen.
»Nur dann, wenn der Verwesungsprozess stark beschleunigt wurde, wie zum Beispiel in einem sehr heißen tropischen oder subtropischen Klima«, erwiderte Scarpetta. »Als ich Gerichtsmedizinerin in Südflorida war, kam dieses Phänomen häufig vor. Ich habe so etwas oft gesehen.«
»Wurde sie deiner Meinung nach im Park oder vielleicht in einem Fahrzeug vergewaltigt, anschließend bewegt und schließlich drapiert, wie Benton es beschrieben hat?«, wollte Berger wissen.
»Jetzt machst du mich aber neugierig. Warum ein Fahrzeug?«, wunderte sich Benton und lehnte sich zurück.
»Ich stelle nur die Theorie in den Raum, dass sie in einem Fahrzeug vergewaltigt und umgebracht worden sein könnte. Anschließend hat der Täter sie dann am Fundort abgelegt und arrangiert«, erwiderte Berger.
»Ich habe weder während der äußerlichen Untersuchung noch bei der Autopsie Anzeichen dafür feststellen können, dass ein Fahrzeug im Spiel war«, antwortete Scarpetta.
»Ich dachte dabei an bestimmte Verletzungen, die sie sich zugezogen haben könnte, falls sie im Park auf dem Boden vergewaltigt wurde«, sagte Berger. »Wenn man jemanden auf einem harten Untergrund vergewaltigt, entstehen dabei doch Blutergüsse und Abschürfungen.«
»Das ist für gewöhnlich so.«
»Im Gegensatz zu einer Vergewaltigung beispielsweise auf der Rückbank eines Autos, wo die Fläche unter dem Opfer nachgiebiger ist als ein gefrorener, mit Steinen, Zweigen und anderen Gegenständen bedeckter Boden«, fuhr Berger fort.
»Ich habe an der Leiche keine Hinweise darauf entdeckt, dass sie in einem Fahrzeug vergewaltigt wurde«, wiederholte Scarpetta.
»Möglicherweise ist sie in ein Fahrzeug gestiegen und wurde auf den Kopf geschlagen. Und dann hat der Täter sie vergewaltigt und die Leiche einige Zeit bei sich behalten, bevor er sie am Fundort abgelegt hat.« Berger stellte keine Frage, sondern schilderte, wie es ihrer Ansicht nach gewesen sein musste. »Die Totenflecke, die Leichenstarre und die Körpertemperatur sind deshalb ungewöhnlich und irreführend, weil Toni kaum bekleidet und Temperaturen knapp über dem Gefrierpunkt ausgesetzt war. Und falls sie wirklich langsam gestorben ist – vielleicht im Laufe mehrerer Stunden an der Kopfverletzung –, könnten die Totenflecken deshalb so weit fortgeschritten sein.«
»Es gibt immer Ausnahmen«, räumte Scarpetta ein. »Aber ich glaube, diesmal kann ich dir die Antworten nicht liefern, die du offenbar hören willst, Jaime.«
»Ich habe im Laufe der Jahre viel zu diesem Thema gelesen, Kay. Der Todeszeitpunkt ist eine Sache, mit der ich häufig zu tun habe und die ich vor Gericht vertreten muss. Dabei habe ich einige interessante Dinge in Erfahrung gebracht. Bei Menschen, die langsam dahinsiechen, zum Beispiel wegen eines Herzinfarkts oder Krebs, bilden sich die ersten Totenflecken, wenn sie noch gar nicht tot sind. Außerdem gibt es Fälle, bei denen die Totenstarre sofort eingetreten ist. Was also spricht dagegen, dass Toni bereits Totenflecken entwickelte, als sie noch lebte, und aufgrund außergewöhnlicher Umstände sofort in Totenstarre gefallen ist? Wie ich glaube, kann das bei Tod durch Ersticken auch vorkommen, und sie hatte immerhin einen Schal um den Hals, wurde also offenbar nach dem Schlag mit
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