Scarpetta Factor
erfüllt den Zweck, sie zu erniedrigen und zu verspotten.« Er klickte weitere Fotos an. »Sie wurde in einer eindeutig sexuellen Pose drapiert, die Verachtung ausdrücken und schockieren soll. Es wurde nichts unternommen, um die Leiche zu verstecken. Ganz im Gegenteil. Sie wurde absichtlich in dieser Stellung abgelegt.«
»Bis auf die von Ihnen beschriebene Körperhaltung weist nichts darauf hin, dass sie geschleppt wurde«, beantwortete Scarpetta Bonnells Frage. »Keine Abschürfungen auf der Rückseite, keine Blutergüsse an den Handgelenken. Allerdings dürfen wir nicht vergessen, dass ihr Körper nicht mehr auf Verletzungen reagieren konnte. Wenn sie nach ihrem Tod an den Handgelenken gepackt wurde, sind keine Blutergüsse entstanden. Bis auf die Kopfwunde ist ihr Körper mehr oder weniger unverletzt.«
»Gehen wir einmal davon aus, dass du recht hast und sie schon seit einer Weile tot ist.« Bergers energische Stimme hallte aus dem schmalen schwarzen Lautsprecher, den Benton für Telefonkonferenzen benutzte. »Dafür gibt es doch sicherlich eine Erklärung.«
»Die Erklärung liegt darin, dass wir wissen, welche Prozesse nach dem Tod im Körper ablaufen«, erwiderte Scarpetta. »Wie schnell er abkühlt, wo sich das nicht mehr zirkulierende Blut aufgrund der Schwerkraft in den Regionen absetzt, die den Untergrund berühren, und woran man das optisch erkennt. Hinzu kommt die typische Muskelstarre, ausgelöst durch einen sinkenden Spiegel von Adenosintriphosphat.«
»Es gibt aber auch Ausnahmen«, wandte Berger ein. »Man hat hinreichend nachgewiesen, dass diese Merkmale, anhand deren sich der Todeszeitpunkt festlegen lässt, stark voneinander abweichen können, und zwar abhängig davon, was der Verstorbene vor seinem Tod getan hat. Außerdem spielen die Witterungsbedingungen, die Körpergröße, die Art der Kleidung und ob der Tote Medikamente einnahm, eine Rolle. Liege ich richtig?«
»Die Bestimmung des Todeszeitpunkts ist keine exakte Wissenschaft.« Es überraschte Scarpetta nicht, dass Berger ihr widersprach.
Es handelte sich um eine der Situationen, in denen die Wahrheit nicht gern gehört wurde.
»Dann liegt es also im Bereich des Möglichen, dass die Leichenstarre und die Totenflecken bei Toni aufgrund von äußeren Umständen so weit fortgeschritten sein könnten«, hakte Berger nach. »Zum Beispiel, weil sie sich beim Joggen stark angestrengt oder sogar vor dem Täter davongelaufen ist, bevor er sie auf den Kopf schlug. Könnte das nicht zu einem ungewöhnlich schnellen Einsetzen der Totenstarre geführt haben? Oder vielleicht zu einer sofortigen Erstarrung, einem sogenannten Leichenkrampf?«
»Nein«, entgegnete Scarpetta. »Sie ist nämlich nicht unmittelbar nach dem Schlag gestorben, sondern hat noch eine Zeitlang gelebt, allerdings ohne sich zu bewegen. Sie lag sterbend im Koma.«
»Aber wenn wir die Sache objektiv betrachten« – es schien, als wolle sie Scarpetta Voreingenommenheit unterstellen –, »geben die Totenflecken keinen Hinweis auf den genauen Todeszeitpunkt. Totenflecken werden von den verschiedensten Faktoren beeinflusst.«
»Die Totenflecken verraten mir nicht, um wie viel Uhr sie gestorben ist, erlauben mir jedoch eine Schätzung. Außerdem sagen sie mir ohne Wenn und Aber, dass die Leiche bewegt worden ist.« Allmählich fühlte sich Scarpetta wie im Zeugenstand. »Vermutlich wurde sie zum Park transportiert, wobei dem Täter wahrscheinlich nicht klar war, dass er durch das Ausstrecken ihrer Arme einen nicht zu übersehenden Widerspruch geschaffen hat. Als die Totenflecken entstanden, befanden sich ihre Arme nämlich nicht oberhalb ihres Kopfes, sondern seitlich am Körper, und zwar mit den Handflächen nach unten. Hinzu kommt, dass Streifen von Kleidungsstücken fehlen. Allerdings ist die Haut unter dem Armband der Uhr blasser, ein Zeichen dafür, dass sie sie am Handgelenk hatte, als sich die Totenflecken bildeten und irreversibel wurden. Deshalb habe ich den Verdacht, dass sie nach ihrer Ermordung mindestens zwölf Stunden bis auf die Uhr völlig nackt war. Sie trug nicht einmal ihre Socken, denn die bestehen aus einem elastischen Material und hätten Spuren hinterlassen. Als sie dann vor dem Abtransport zum Park wieder angekleidet wurde, hat der Täter ihr die Socken verkehrt herum angezogen.«
Sie erklärte den anderen, was es mit Tonis anatomisch korrekten Laufsocken auf sich hatte, und fügte hinzu, es käme zu typischen verräterischen Hinweisen, wenn ein Täter
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