Schabernackel
und Unterhaltung.“
Aber auf die Bienen brauchte er gar nicht zu warten, er hatte auch so bald Musik und Unterhaltung genug. Kamen da doch zwei Kinder und eine ältere Dame den schmalen Heide weg entlang, die laut miteinander redeten und hin und wieder auf einer Kuckucksflöte und einer Mundharmonika ihre Fröhlichkeit in den blauen Himmel hineinmusizierten. Schabernackel sah und hörte ihnen lächelnd zu, als sie sich nur wenige Meter von ihm entfernt ins Heidekraut setzten. „Oma“, sagte der Junge, „wir sind schon einen Kilometer marschiert, jetzt mußt du uns wieder eine Geschichte erzählen.“
„Ja“, rief das Mädchen, „das war abgemacht! Jeden Kilometer eine Geschichte, bis wir zu Hause sind!“
„Oh, Kinder“, wehrte die alte Dame ab, „so viele Geschichten, wie ihr hören wollt, gibt es ja gar nicht! Ich glaube, ich kenne keine mehr.“
„Du kennst noch ganz viele!“ rief der Junge und ließ den Kuckuck in seiner Flöte fünfmal rufen. „Du willst nur nicht mehr erzählen.“
Die Oma seufzte.
„Kennt ihr schon die Geschichte vom Geschichtenerzähler?“ fragte sie. „Von dem Geschichtenerzähler, der alle Geschichten wegerzählte, die es gab, und darum nicht mehr leben mochte?“
„Nein, die kennen wir noch nicht“, rief das Mädchen, „die mußt du uns unbedingt erzählen!“
„Ja, also“, begann die alte Frau, „das war so! In einem Land, ganz weit von hier, da lebte ein junger Mann, der nicht sehr hübsch war, dafür aber wunderschöne Geschichten erzählen konnte. Die Leute im Dorf, wo er wohnte, merkten das bald und hörten ihm gerne zu. Jeden Abend kamen sie in seinen Garten, setzten sich auf das Gras und lauschten seinen Erzählungen. Es gab damals noch kein Fernsehen, und das Radio war auch noch nicht erfunden, müßt ihr wissen. Darum waren die Geschichten des Mannes ihre einzige Unterhaltung. Und er erzählte so anschaulich und lebendig, daß die Zuhörer alles richtig vor Augen sahen wie in einem Film. So ging das jahrelang, Tag für Tag. Die Kinder wurden groß und die Erwachsenen immer älter. Der Mann hatte längst einen langen Bart, der anfangs braun war, aber nach und nach grau wurde. Und er erzählte immer weiter, manchmal vier und fünf Geschichten an einem Abend. Das sind in einem Jahr über tausend und in zehn Jahren weit über zehntausend Stück! Als der Mann schon achtundneunzig Jahre alt war, erzählte er immer noch. Seine Stimme klang noch genauso hell und angenehm wie in seiner Jugendzeit, nur etwas leiser war sie geworden, und manchmal mußte er beim Sprechen
eine Pause machen, um Luft zu schöpfen. Das muß ich ja auch schon, und ich bin doch erst siebenundsechzig.
Eines Abends erzählte er die hunderttausendste Geschichte. Die war sehr lang und dauerte über drei Stunden. Als sie zu Ende war, lächelte er seine Zuhörer freundlich an und sagte: Das war die allerletzte Geschichte. Mehr gibt es nicht. Ich kann euch nun keine mehr erzählen. Die Leute nickten wehmütig und gingen in ihre Häuser.
Am nächsten Tag war der Mann tot. Er war in der Nacht gestorben. Was sollte er noch auf der Welt, wenn es keine Geschichten mehr gab?
Die Leute begruben ihn und weinten. Seine Geschichten begruben sie natürlich nicht mit, die lebten weiter. Sie leben sogar heute noch! Und wenn ihr mal eine hört, von mir oder von einem andern, dann ist es bestimmt eine von denen, die der alte Mann vor vielen Jahren zum erstenmal erzählt hat, denn er kannte ja alle, die es gibt.“
Die Großmutter schwieg. Die Kinder auch. Sie dachten nach über das, was sie gehört hatten.
„Oma“, sagte der Junge endlich, „war das auch eine Geschichte von dem alten Mann?“
„Natürlich“, antwortete die Frau lächelnd. „Aber nun kommt! Es dämmert schon, und wir müssen noch fast eine Stunde gehen, bis wir zu Hause sind. Und ich bin schon sehr, sehr müde.“
Schabernackel sah, wie sie alle aufstanden und sich auf den Heimweg machten.
Das ist mal eine liebe Frau, dachte er, und erzählen kann sie wie kein zweiter. Ich könnte ihr stundenlang zuhören. Hoffentlich geben die Kinder ihr nun Ruhe und verlangen nicht noch eine Geschichte von ihr! Ich fliege am besten mal mit und paß auf, was geschieht.
Langsam und in großer Höhe flog er den Wandernden nach. Obwohl er seine Ohren auf Fernempfang eingestellt hatte, konnte er nichts mehr von ihnen hören, denn sie sprachen vor Müdigkeit nicht mehr miteinander.
Als sie das kleine Heidehaus, in dem sie wohnten, erreichten,
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