Schach mit einem Vampir
Sorgen machen? Hatte er sich doch selbst darüber Gewissheit verschafft, dass niemand dazu in der Lage war, über diesen Weg in ihre Wohnung einzudringen. Er hätte jedoch beim Blick aus dem Fenster auch nach oben sehen sollen. Dann wäre ihm ein dunkler Schatten aufgefallen, der sich lautlos und scheinbar mühelos, auf mysteriöse Weise, an der steilen, glatten Hauswand vorwärtsbewegte.
***
Seine Augen waren auf die schöne junge Frau gerichtet. Sie war in natura noch reizvoller, als sie auf der Fotografie ausgesehen hatte, die er aus der Wohnung einer seiner Nahrungsspender mitgenommen hatte. Nicht einmal eine Glasscheibe trennte den Beobachter von seiner Angebeteten. Das Fenster, vor dem er sich befand, war zum Lüften der Wohnung weit geöffnet worden. Doch allein die Tatsache, dass der Beobachter und die Frau nicht durch eine Barriere voneinander getrennt wurden, war keineswegs das Unheimliche an der Sache. Es war schon eher der seltsame Umstand, wie sich die schattengleiche Gestalt an der Hauswand voranbewegte. Der Fremde kletterte an der glatten Fassade des neunten Stockwerks. Und seinen Halt fand er unerklärlicherweiseohne irgendwelche Hilfsmittel. Weder ein Seil noch ein Kletterhaken oder Steigeisen hielten ihn an der Betonwand. Es war etwas Unnatürliches, was diese Befähigung bewirkte. Eine jeglicher Logik widersprechende, widernatürliche Gabe, die die dunkle Gestalt besaß. Denn der Beobachter war kein Mensch. Zwar hatte er menschliche Konturen, ein menschliches Gesicht, doch der Schein war trügerisch.
Das Wesen wechselte seine Position, um die Frau noch deutlicher sehen zu können. Dabei bewegte es sich wie eine Spinne am kalten Beton vorwärts. Die Schönheit stand entspannt unter der Dusche und ahnte nichts von ihrem unheimlichen Verehrer. Warum sollte sie auch? In dieser Höhe erwartete man keine Spanner am Fenster. Schon gar nicht, weil es auf dieser Seite des Gebäudes weder eine Feuertreppe noch eine Leiter gab, auf der man in die Nähe der Fenster des Appartements hätte gelangen können. Die Brünette drehte das erfrischende Wasser aus und verließ die Duschkabine. Dann trocknete sie ihren makellosen Körper mit einem weichen Frotteehandtuch ab und streifte sich ein rotes Nachthemd über. Darüber zog sie einen Bademantel, der ihr bis zu den Waden reichte. Ihre noch feuchten Haare drehte sie in ein Handtuch ein. Das Wesen befiel eine Unruhe. Er begehrte sie, wollte von ihrem Blut kosten. Doch das war noch nicht alles, was er sich von ihr wünschte. Ja, er hatte sich vorgenommen, sie zu seinesgleichen zu machen. Zu einer Untoten, zu einem Vampir! Er würde ihr, nur durch einen Biss in ihren schlanken Hals, das ewige Leben schenken und anschließend mit ihr die Zukunft verbringen. Denn nach all der vergangenen Zeit, nach all den Jahrhunderten, die er einsam überdauerte, hatte er endlich eine Frau gefunden, die ihn interessierte und dazu gleichzeitig noch faszinierte. Je länger er sie betrachtete, desto sicherer wurde er sich eines längst verloren geglaubten Gefühls. Es keimte in ihm auf wie ein junger Spross in der Frühlingssonne. Der Vampir erinnerte sich daran, wie dieses Gefühl genannt wurde: Liebe. Er wechselte erneut die Position und kroch auf das offen stehende Wohnzimmerfensterzu. Es befand sich in zwei Metern Entfernung zum Bad. Dabei krabbelte er wie ein Kind am Boden die steil abfallende Wand entlang und positionierte seinen muskulösen Körper direkt darüber. Nun hing er kopfüber in Richtung Straße. Von hier aus konnte er gut ins Innere der Wohnung blicken und den richtigen Moment abpassen, um seinem Begehren nachzugehen. Das Licht wurde im Wohnzimmer eingeschaltet und dessen Schein fiel für einen Wimpernschlag auf das Gesicht des Betrachters, bevor dieser sich ein Stück in die Dunkelheit zurückzog. Die unheimliche Gestalt trug eindeutig das Antlitz eines Menschen. Die Züge wirkten jugendlich, doch gleichzeitig uralt. Seine Gesichtsfarbe war aschfahl, fast weiß. Gefährlich glitzerten die wachen, dunklen Augen, blickten in das Zimmer und fixierten lüstern die nun den Raum betretende Frau. Der Vampir fuhr sich kurz mit der Hand durch die dichten, tiefschwarzen Haare, schloss einige Sekunden lang die Augen. Dann geschah etwas Unvorstellbares. Das Gesicht verwandelte sich schlagartig in eine hässliche, animalische und boshaft wirkende Fratze. Blutgier und die Raserei eines Tieres spiegelten sich nun in den Augen des Monstrums wider. Er bleckte die Zähne.
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