Schach von Wuthenow
begonnen hatte, zurückzufinden, und sagte: »Meine teure Victoire scherzt. Ich möchte wetten, es ist ein Band Rousseau, was da vor ihr liegt, und ihre Phantasie geht mit dem Dichter.«
»Nein, es ist nicht Rousseau. Es ist ein anderer, der mich
mehr
interessiert.«
»Und
wer
, wenn ich neugierig sein darf?«
»Mirabeau.«
»Und warum
mehr
?«
»Weil er mir nähersteht. Und das Allerpersönlichste bestimmt immer unser Urteil. Oder doch fast immer. Er ist mein Gefährte, mein spezieller Leidensgenoß. Unter Schmeicheleien wuchs er auf. ›Ah, das schöne Kind‹, hieß es tagein, tagaus. Und dann eines Tags war alles hin, hin wie... wie...«
»Nein, Victoire, Sie sollen das Wort nicht aussprechen.«
»Ich
will
es aber und würde den Namen meines Gefährten und Leidensgenossen zu meinem
eigenen
machen, wenn ich es könnte. Victoire
Mirabeau
de Carayon, oder sagen wir Mirabelle de Carayon, das klingt schön und ungezwungen, und wenn ich's recht übersetze, so heißt es Wunderhold.«
Und dabei lachte sie voll Übermut und Bitterkeit. Aber die Bitterkeit klang vor.
»Sie dürfen so nicht lachen, Victoire, nicht
so
. Das kleidet Ihnen nicht, das verhäßlicht Sie. Ja, werfen Sie nur die Lippen –
verhäßlicht
Sie. Der Prinz hatte doch recht, als er enthusiastisch von Ihnen sprach. Armes Gesetz der Form und der Farbe. Was allein gilt, ist das ewig Eine, daß sich die Seele den Körper schafft oder ihn durchleuchtet und verklärt.«
Victoirens Lippen flogen, ihre Sicherheit verließ sie, und ein Frost schüttelte sie. Sie zog den Shawl höher hinauf, und Schach nahm ihre Hand, die eiskalt war, denn alles Blut drängte nach ihrem Herzen.
»Victoire, Sie tun sich unrecht; Sie wüten nutzlos gegen sich selbst und sind um nichts besser als der Schwarzseher, der nach allem Trüben sucht und an Gottes hellem Sonnenlicht vorübersieht. Ich beschwöre Sie, fassen Sie sich und glauben Sie wieder an Ihr Anrecht auf Leben und Liebe. War ich denn blind? In dem bittren Wort, in dem Sie sich demütigen wollten, in eben diesem Worte haben Sie's getroffen, ein für allemal. Alles ist Märchen und Wunder an Ihnen; ja Mirabelle, ja Wunderhold!«
Ach, das waren die Worte, nach denen ihr Herz gebangt hatte, während es sich in Trotz zu waffnen suchte.
Und nun hörte sie sie willenlos und schwieg in einer süßen Betäubung.
Die Zimmeruhr schlug neun, und die Turmuhr draußen antwortete. Victoire, die den Schlägen gefolgt war, strich das Haar zurück und trat ans Fenster und sah auf die Straße.
»Was erregt dich?«
»Ich meinte, daß ich den Wagen gehört hätte.«
»Du hörst zu fein.«
Aber sie schüttelte den Kopf, und im selben Augenblicke fuhr der Wagen der Frau von Carayon vor.
»Verlassen Sie mich... Bitte.«
»Bis auf morgen.«
Und ohne zu wissen, ob es ihm glücken werde, der Begegnung mit Frau von Carayon auszuweichen, empfahl er sich rasch und huschte durch Vorzimmer und Korridor.
Alles war still und dunkel unten, und nur von der Mitte des Hausflurs her fiel ein Lichtschimmer bis in Nähe der obersten Stufen. Aber das Glück war ihm hold. Ein breiter Pfeiler, der bis dicht an die Treppenbrüstung vorsprang, teilte den schmalen Vorflur in zwei Hälften, und hinter diesen Pfeiler trat er und wartete.
Victoire stand in der Glastür und empfing die Mama.
»Du kommst so früh. Ach, und wie hab ich dich erwartet!«
Schach hörte jedes Wort. »Erst die Schuld und dann die Lüge«, klang es in ihm. »Das alte Lied.«
Aber die Spitze seiner Worte richtete sich gegen ihn und nicht gegen Victoire.
Dann trat er aus seinem Versteck hervor und schritt rasch und geräuschlos die Treppe hinunter.
Neuntes Kapitel
Schach zieht sich zurück
»Bis auf morgen«, war Schachs Abschiedswort gewesen, aber er kam nicht. Auch am zweiten und dritten Tage nicht. Victoire suchte sich's zurechtzulegen, und wenn es nicht glücken wollte, nahm sie Lisettens Brief und las immer wieder die Stelle, die sie längst auswendig wußte. »Du darfst Dich, ein für allemal, nicht in ein Mißtrauen gegen Personen hineinleben, die durchaus den entgegengesetzten Anspruch erheben dürfen. Und zu diesen Personen, mein ich, gehört Schach. Ich finde, je mehr ich den Fall überlege, daß Du ganz einfach vor einer Alternative stehst und entweder Deine gute Meinung über S. oder aber Dein Mißtrauen gegen ihn fallenlassen mußt.« Ja, Lisette hatte recht, und doch blieb ihr eine Furcht im Gemüte. »Wenn doch alles nur...« Und es übergoß
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