Schadrach im Feuerofen
sollten Götter keine Launen haben? Wie süß es ist, unbeweglich zu sein und wenn überhaupt, dann nur in Sprachen zu denken, die niemand mehr versteht! Nullum est iam dictum quod non dictum est prius. Was für einen guten Klang das hat! Und nun bitte die Posaunen und die Bassetthörner:
Dies irae, dies illa
Solvet saeclum in favilla
Teste David cum Sibylla.
Die Stimmen entfernen sich allmählich. Die Musik wird leiser, der Klang der Instrumente ist jetzt hohl, ein bloßer Geräuschumriß, der nichts einschließt, mehr die Idee des Klangs als der Klang selbst, und der weit entfernte Chor singt die furchtbaren Worte des alten Gebets in einem schwach und raschelnd herüberwehenden Ton, der gleichwohl klar und durchdringend bleibt:
Quantus tremor est futurus
Quanto Judex est venturus
Cuncta stricte discussurus!
Und dann ist alles still. Er hat den Frieden gefunden. Er hat die Kernsubstanz des Traumtodes erreicht, alles Suchen und Bemühen hat ein Ende. Die Jagd ist vorbei. Wenn er wollte, könnte er jeden beliebigen Ort der Erde aufsuchen, und die Mühe des Reisens wäre nicht größer als die eines Augenzwinkers, aber es gibt keinen Grund, irgendwohin zu gehen, denn alle Orte sind eins geworden, und es ist besser, hier zu bleiben, bewegungslos im weichen, süßen, wolligen Vlies des Grabes zu bleiben, hier am Ruhepunkt. Er befindet sich in einem vollkommenen Gleichgewicht. Er ist endlich wahrhaft tot. Er weiß, daß er für immer schlafen wird.
Plötzlich erwacht er. Sein Verstand ist klar, der plötzliche Übergang zum Wachen erzeugt ein schmerzhaftes Prickeln. Katja liegt neben ihm, auf einen Ellbogen gestützt, und blickt mit einem sphinxartigen Lächeln in den Raum. Er sieht ihren breiten, fleischigen Rücken, die massigen Hinterbacken, und augenblicklich ist es um die Gemütsruhe des Traumtodes geschehen; Lust beherrscht ihn. »Laß uns gehen«, sagt er heiser.
»Einverstanden.«
»Es ist nicht weit zum Hotel.«
»Nein. Nicht dort.« Sie hat bereits begonnen, sich anzukleiden. Die Wärterin mit der Löwenmaske ist auf der anderen Seite des Mittelgangs und begrüßt Neuankömmlinge. Das grelle Licht macht Schadrach benommen. Er ist überzeugt, daß Anubis und Thoth noch immer irgendwo in der Nähe lauern. Er müht sich, das verschwundene Gleichgewicht wiederzufinden, den Weg zum Ruhepunkt zurückzugehen, doch er weiß, daß es noch vieler Erfahrungen im Traumtod bedarf, ehe er diesen Ruheort aus eigener Kraft erreichen kann.
»Wo dann?« fragt er.
»Zu Hause. Ich verabscheue Stundenhotels, wußtest du das nicht?«
Also muß er sein Verlangen noch ein paar Stunden unterdrücken. Vielleicht ist das die Lektion des Traumtodes: Reinigung des Geistes durch Aufschub der Befriedigung. Oder vielleicht nicht. Der Schritt von der strahlenden Lichterfülle des Traumtod-Zeltes in die Dunkelheit draußen ist wie ein Schlag, die Nacht ist obendrein kalt, kalt sogar für den mongolischen Mai. Der Geruch von Schnee liegt in der Luft, und der durchdringende Wind fegt vereinzelte kleine Flocken durch die Straßen. Während der Rückfahrt sprechen sie kaum miteinander, doch als der Zug vor dem Eintreffen in Ulan Bator verlangsamt, sagt Schadrach: »Warst du wirklich da?«
»In deinem Traum?«
»Ja. Als wir Sancho Pansa trafen. Und den ersten Kaiser von China. Und als wir nach Mexiko gingen.«
»Das war dein Traum«, sagte sie. »Ich hatte andere.«
»Ach. Ich fragte mich schon, wie das möglich sei. Ich sprach mit dir, hatte dich neben mir, und alles schien sehr lebensecht.«
»So ist es in den Träumen immer.«
»Aber ich bin überrascht, wie spielerisch alles war. Sogar frivol.«
»So war es für dich?«
»Bis zum Ende«, sagte er. »Da wurde es feierlich. Als alles ruhig wurde. Aber vorher…«
»Frivol?«
»Sehr frivol, Katja.«
»Für mich war es die ganze Zeit feierlich. Eine große Stille.«
»Ist es für jeden anders?«
»Natürlich«, sagt sie. »Was dachtest du?«
»Oh.«
»Dachtest du, als du in deinem Traum mir begegnetest, ich sei tatsächlich da, spräche mit dir, teilte deine Erlebnisse mit dir?«
»Ich muß gestehen, daß ich es dachte.«
»Nein. Ich war nicht dort.«
»Nein. Natürlich nicht.« Er lachte. »Na gut, es war naiv von mir. Für dich war es, also ernst und feierlich. Für mich war es wie ein Spiel. Für mich war alles wie ein Spiel. Was sagt das über dich und über mich aus?«
»Nichts.«
»Wirklich nichts?«
»Überhaupt nichts.«
»In den Träumen,
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