Schadrach im Feuerofen
fragt den Vorsitzenden, ob er irgendwelche ungewöhnlichen Beschwerden verspürt habe, und der gibt widerwillig zu, daß er wiederholt ein scharfes Stechen im Rücken und in den Seiten gefühlt habe. Schadrach macht ihn nicht auf den Widerspruch zwischen dieser Auskunft und dem behaupteten Wohlbefinden aufmerksam; aber das Eingeständnis gibt ihm die Oberhand, und er verordnet dem Patienten Bettruhe.
Der Blick durch eine Kathetersonde in die Bauchschlagader bestätigt die erste Diagnose. Der jüngste Eingriff hat dort offenbar ein Blutgerinnsel hinterlassen, das sich in der Bauchschlagader festgesetzt und eine Infektion verursacht hat. Vielleicht trifft letzteres auch nicht zu, jedenfalls bildet sich eine Geschwulst, die einen neuen Eingriff notwendig macht. Wäre es ein anderer Patient, so würde Schadrach die Risiken einer Operation so bald nach einer größeren Organverpflanzung für noch größer halten als das Risiko einer Ausdehnung des Aneurysmas. Aber mittlerweile macht es ihm kaum noch etwas aus, seinen hochgestellten Patienten dem Messer auszuliefern. Der Körper des alten Mannes ist so oft geöffnet worden, daß er häufige chirurgische Eingriffe als natürlichen Zustand zu akzeptieren scheint. Überdies ist das Aneurysma nicht weit von der Leber entfernt, und Warhaftig wird es durch den zuletzt ausgeführten Schnitt erreichen, der erst zu verheilen beginnt.
Die Nachricht verdrießt den Vorsitzenden. »Ich habe jetzt keine Zeit für Chirurgie«, sagt er irritiert. »Es gibt eine Menge Akten und Entscheidungen aufzuarbeiten. Außerdem werden täglich neue Verschwörer entdeckt. Dieses Problem verdient meine volle Aufmerksamkeit. Schließlich soll nächste Woche Mangus Staatsbegräbnis stattfinden, bei dem ich persönlich zugegen sein möchte. Ich…«
»Es besteht ernste Gefahr, und ich empfehle…«
»Das sagen Sie immer, Doktor. Ich glaube, es macht Ihnen Spaß, mir das zu erzählen. Ich habe den Verdacht, daß Sie sich zu unsicher fühlen, Doktor. Selbst wenn es Ihnen nicht gelänge, alle paar Wochen eine neue Krise zu finden, würde ich Sie nicht von der Gehaltsliste streichen. Sie sind mir sympathisch, Doktor.«
»Mit Verlaub, ich erfinde die Krisen nicht.«
»Trotzdem. Hat das nicht noch einen oder zwei Monate Zeit?«
»Dann müßten wir einen frischen Schnitt in geheiltes Gewebe machen.«
»Was ist schon dabei? Auf einen Schnitt mehr oder weniger kommt es nicht an.«
»Abgesehen davon, das Risiko…«
»Ja«, sagt der Vorsitzende. »Das Risiko. Wie sieht es aus, wenn ich dieses Ding lasse, wie es ist?«
»Wissen Sie, was ein Aneurysma ist, Herr Vorsitzender?«
»Mehr oder weniger.«
»Es ist eine Arterienerweiterung, an deren Wand sich ein Blutgerinnsel festgesetzt hat und das umliegende Gewebe durch infektiöse Vorgänge schädigt. Was ich gesehen habe, gleicht einer Geschwulst. Wenn eine Geschwulst zu groß wird, blockiert sie entweder die Schlagader, oder sie durchbricht die Außenwand.«
»Ah.«
»Eine weitere Möglichkeit ist, daß Teile des Blutgerinnsels oder des befallenen Gewebes losgelöst werden und, vom Blutkreislauf mitgenommen, anderswo eine Embolie oder einen Infarkt erzeugen. Es gibt noch andere Möglichkeiten. Alle sind tödlich.«
»Tödlich?«
»Unweigerlich. In den meisten Fällen führen sie innerhalb von Minuten unter großen Schmerzen zum Tode.«
»Ich verstehe.«
»Eine solche Situation tödlicher Gefahr könnte sich praktisch jederzeit ergeben.«
»Hm.«
»Ohne Vorwarnung.«
»Ich sehe.«
»Käme es zu einem Durchbruch oder zu einer Embolie, wären wir hilflos. Dann gäbe es keine Möglichkeit mehr, Sie zu retten.«
»Ah. Ich sehe.«
Sieht er wirklich? Ja. Gewiß zeigen sich dem Basiliskenblick des Vorsitzenden jetzt Visionen durchbrechender Adergeschwüre. Die hageren, lederigen Wangen ziehen sich in tiefer Nachdenklichkeit zusammen; düstere Falten durchfurchen die bronzefarbene Stirn. Der Vorsitzende ist in Sorge. Er hatte nicht erwartet, diesen Morgen mit der Möglichkeit eines plötzlichen Todes konfrontiert zu werden. Nun überdenkt er offenbar das Dahinscheiden Dschingis Khans II. Mao von dieser Welt, und die Vorstellung scheint ihm weniger denn je zuzusagen. Die permanente Revolution, die das Gesicht der gequälten Welt bereits durchgreifend verändert hat, benötigt einen permanenten Führer; obwohl der Vorsitzende oft gesagt hat, daß die Teilnahme an der Revolution dem aktiven Revolutionär Unsterblichkeit verschaffe, weil ein solcher
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