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Schadrach im Feuerofen

Schadrach im Feuerofen

Titel: Schadrach im Feuerofen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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Verlockung – nicht nur eine medizinische Studie zu schreiben, sondern eine breit angelegte, alle Aspekte einbeziehende Biographie Dschingis Khans II. Mao. Abgesehen von vagen, zurechtfrisierten und allein auf Verherrlichung angelegten Lebensbeschreibungen des Vorsitzenden für den öffentlichen Gebrauch in Schulen und politischen Fortbildungskursen, in denen alle Einzelheiten über sein Privatleben fehlen, gibt es nichts, was die Bezeichnung Biographie verdiente. Es ist, als sei der alte Mann von einer abergläubischen Furcht erfüllt, daß sein wahres Selbst zutage gefördert, analysiert und auf Papier ausgebreitet werden könnte. Eben das bezweckt Schadrachs impulsive Fantasie: den alten Teufel literarisch zu beschwören und so eine Art Herrschaft über ihn zu erlangen.
    Die Schwierigkeit dabei ist, daß kein Quellenmaterial zur Verfügung steht. Die Archive von Polizei und Einwohnerbehörden sind vollgestopft mit Personalakten und Unterlagen über jeden lebenden Menschen, Unterlagen, in denen alle nennenswerten Daten über jede beliebige Person festgehalten sind. Nur über Dschingis Khan II. Mao gibt es nichts. Die Fakten seines Lebens sind weitgehend unbekannt, sieht man von den elementaren Meilensteinen seines politischen Wirkens ab. Alle Detailinformationen sind unterdrückt, sogar ausgelöscht worden. Wann genau wurde er geboren? In welchem obskuren Dorf? Wie sah seine Kindheit aus, von welcher Art waren seine Jungenträume? Wie war der Name seiner Eltern? Von welcher Art war seine Erziehung und Ausbildung? Wie war das Frühstadium seiner politischen Karriere? War er jemals ins Ausland gereist, war er je verheiratet gewesen? Hatte er Kinder? Ja, das ist eine gute Frage, denkt Schadrach: gibt es irgendwo in der Mongolei oder in den Weiten Ostasiens Männer und Frauen mittleren Alters, die den Vorsitzenden zum Vater haben, und wenn es so ist, wissen sie, wer ihr Vater ist? Niemand kann diese Fragen beantworten. Der alte Mann hat seine Spuren sehr sorgfältig verwischt, so sorgfältig, daß es auf eine totale Geheimhaltung hinausläuft, die als Indiz für eine Art Geisteskrankheit angesehen werden könnte.
    Aber ist jemand wirklich bereit und entschlossen, alle Spuren seiner privaten Persönlichkeit zu tilgen? Verbrecher, so heißt es, kehren zwanghaft zum Schauplatz ihres Verbrechens zurück; möglicherweise neigen auch jene, die sich gern in Geheimnistuerei hüllen, dazu, daß sie zum Ausgleich ihrer eigenen Mystifikationen der Nachwelt zuliebe einen vollständigen Bericht alles dessen vergraben, was sie ihr Leben lang zu verbergen suchten. Gibt es keinen Ort, wo der alte Mann Unterlagen über alles das verwahrt, was er der Öffentlichkeit vorenthält? Vielleicht ein Tagebuch, ein persönliches und Hintergründe enthüllendes Tagebuch, ein Zufluchtsort für die maskierte Seele eines einsamen Menschen? Schadrach stellt sich vor, wie er durch Zufall auf ein solches Dokument stößt, mit dessen Hilfe er den ersten wahrheitsgetreuen Bericht über die seltsame und düstere Gestalt verfassen wird, welche die sterbende Zivilisation des frühen einundzwanzigsten Jahrhunderts beherrschte.
    Natürlich gibt es kein solches Tagebuch. Gewöhnliche Diebe und Gauner gefährden mit solchen sentimentalen Eitelkeiten zuweilen ihre eigene Sicherheit, aber Schadrach kennt den alten Mann gut genug, um zu wissen, daß dieser keine verborgenen Memoiren hinterlassen wird, damit andere sie finden. Er ist als Privatmann so undurchschaubar wie als Mann des öffentlichen Lebens. Aber das macht nichts. In seiner Fantasierolle als Biograph des Vorsitzenden wird Schadrach auch die Memoiren des Alten erfinden, das Quellenmaterial, das bisher nicht veröffentlicht wurde. Er schließt die Augen und läßt seiner Einbildungskraft freien Lauf. Im Schmelztiegel seines Gehirns entsteht das Tagebuch des alten Tyrannen.
     
    11. November 2010
    Mein Geburtstag. Dschingis Khan II. Mao ist heute fünfundachtzig. Nein, das ist nicht richtig. Dschingis Khan II. Mao ist – ungefähr zwanzig Jahre alt. Es ist Dashijin Choijamtse, der heute fünfundachtzig ist. Dashijin Choijamtse, den ich wie einen inneren Zwilling mit mir trage. Wer erinnert sich noch an ihn, den fetten kleinen Kerl in den Armen des stolzen Vaters? So lang ist es her, daß es einem selbst unwirklich erscheint. Im Dorf Dalan-Dsadagad, in einer schneereichen Winternacht des Jahres 1925. Dalan-Dsadagad, im Distrikt Süd-Gobi. Seit fünfzehn Jahren bin ich nicht mehr dort gewesen. Mein

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