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Schadrach im Feuerofen

Schadrach im Feuerofen

Titel: Schadrach im Feuerofen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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Heimatort, aber wer weiß das schon. Wer weiß überhaupt etwas? Nun, ich weiß es, und das genügt. Dashijin Choijamtse ist heute fünfundachtzig. Wie viele von den anderen, die am elften November 1925 geboren wurden, sind noch am Leben? Nicht viele, nein. Und jene, die wie ich überdauert haben, sind altersschwache, tapernde Wracks. Wogegen ich noch immer im besten Mannesalter bin, ich, Dashijin Choijamtse, aus Dalan-Dsadagad, Sohn des Yumshaghijin Choijamtse, zu seiner Zeit Direktor der Kamelzuchtstation in Bogdo-Gum. O ja, ich fühle mich kräftig, robust und bei vollem Verstand. Und das nicht allein wegen der verpflanzten Organe. Es ist das Erbe, das gute alte Nomadenblut. Als der bakteriologische Krieg ausbrach, war ich beinahe siebzig, aber niemand sah es mir an, so kräftig und zäh war ich: noch alle Zähne im Mund, pechschwarzes Haar, jede Woche Zwanzigkilometermärsche. Damals hatte ich meine Organe noch alle beisammen; damals fühlte ich mich noch als Dashijin Choijamtse. Seltsame Silben, die inzwischen fremdartig klingen, obwohl sie sechzig Jahre lang mein Name gewesen sind. Und ich überlebte den Viruskrieg, unberührt von der inneren Fäulnis. Um mich her starben die Menschen wie Fliegen. Eine schreckliche Erinnerung. Die Zeit der Organverpflanzungen kam erst viel später, nachdem die Macht mir zugefallen war und die jahrzehntelangen revolutionären Kämpfe und Mühseligkeiten ihren Tribut forderten. Und nun unterstützen geschickte Ärzte meine natürliche nomadische Lebenskraft. Vielleicht werde ich weitere fünfzig Jahre leben.
    Vielleicht noch viel länger.
    Wie oft gedenke ich meiner Kindheit! Wie viel Schnee türmt sich in vierundachtzig Jahren auf! Ich sehe meines Vaters Gesicht vor mir, schmal und hager wie das meinige, dichte Augenbrauen, starke Backenknochen. Yumshaghijin Choijamtse von der Kamelzuchtstation in Bogdo-Gum, später Träger des Leninordens. 1939 in der Schlacht am Chalkin-Göl verwundet, später Staatssekretär im Landwirtschaftsministerium… siehst du, Vater, ich erinnere mich gut! 1948 kamst du bei einem Flugzeugabsturz zwischen Moskau und Ulan Bator ums Leben, auf der Heimreise von einer Weizenkonferenz. So lange her. Nun bist du schon zweiundsechzig Jahre tot, Yumshagijin Choijamtse. Kinder, die in der Nacht geboren wurden, als dein Flugzeug abstürzte, sind heute alte Männer und Frauen. Und ich bin noch immer da, Vater. Ich bin der zweite Dschingis Khan. Wie gut entsinne ich mich der Kindheitstage in der Kamelzuchtstation! Ich stehe im Neuschnee, und du hältst ein Kamel am Zaumzeug. Das Kamel ragt wie ein Berg über mir auf, ein langes, gutmütiges Gesicht, die Schnauze wie aus warmem Gummi, geduldige dunkle Augen mit einem Ausdruck feiner Geringschätzung. Das Kamel neigt den Kopf zu mir, und seine riesige Zunge streicht mir rau und feucht und mit dem sauren Geruch gegorenen Heus übers Gesicht. Du lachst, hebst mich auf, nimmst mich in die Arme und drückst mich, daß mir die Luft wegbleibt. Wie riesig du bist! Für mich größer als das Kamel. Ich bin drei, vier Jahre alt.
    Und meine Mutter? Ich kannte sie nie. Draußen bei der Yakherde im Schneesturm erfroren, als ich ein Säugling war. Ich habe sogar deinen Namen vergessen, Mutter. Ich könnte nachschlagen, aber wo… wo…?
    Schadrach hält inne, denkt nach, überlegt noch einmal. Ist es plausibel? Wie steht es mit der inneren Schlüssigkeit? Der Ton ist ungefähr richtig, aber was ist mit den Tatsachen? Soll er bedeutsame Einzelheiten ändern? Würde das einen Unterschied machen? Es käme auf einen Versuch an…
     
    17. Oktober 2012
    Mein Geburtstag. Dschingis Khan II. Mao ist heute zweiundneunzig, obgleich mein offizielles Alter erst siebenundachtzig beträgt. Doch gibt es manche, die glauben, ich sei über hundert Jahre alt. Das würde bedeuten, daß ich um 1905 geboren wäre. Kann jemand im Ernst so etwas glauben? Ist 1920 nicht schon schlimm genug? Lenin, Trotzki, Sukhe Bator, Lloyd George, Clemenceau, Wilson… meine Zeitgenossen. Und ich bin noch immer am Leben, in diesem Jahr 2012, ich, der frühere Namsan Gombojab, geboren in Sain-Shanda, jüngster Sohn des Yaktreibers Khorlogijin Gombojab, der…
    Nein. Die Veränderung der Einzelheiten ist trivial. Mag er ursprünglich Choijamtse, Gombojab, Ochirbal oder wie immer geheißen haben; mag er 1925, 1920, 1915 oder sogar 1910 geboren sein; mag er seine Karriere im Verteidigungsministerium, in der Behörde für die Landreform, im Kommissariat für

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