Schadrach im Feuerofen
Volksaufklärung gemacht haben: alles das macht keinen Unterschied. Die tiefwurzelnden Wesenszüge des alten Mannes, seine Ansichten und sein Weltbild sind dein Thema, Schadrach. Nicht die Belanglosigkeiten von Jahreszahlen und Orten.
14. Mai 2012
Vor kaum zwei Stunden wurde die Leberverpflanzung beendet, und hier liegt der zweite Dschingis Khan, alt und lederig, aber noch nicht tot, weit gefehlt; er ist wach, voll Energie, aufmerksam. Ich bin stolz auf ihn, auf seine unauslöschbare Lebenskraft, seine niemals erlahmende Spannkraft. Ich grüße dich, alter Freund! Ha! Ich fühle Schmerzen in meinem Leib, aber es ist nichts, worüber zu ächzen sich lohnte. Schmerz ist das Zeichen dafür, daß wir leben und fühlen, daß wir auf Reize reagieren. Die Müdigkeit und die Schwere, die mich überkamen, als die alte Leber zu versagen begann, beginnen bereits zu weichen. Ich fühle, wie mein Körper sich selbst reinigt. Mir ist, als schwebte ich zwei Meter über meinem Bett, über all den komplizierten und schönen Apparaten, die heilende und nährende Flüssigkeiten in meine irdische Hülle pumpen. Wie gesund und schön ist der Schmerz, dieses langsame, tiefe Pochen… wie eine Glocke, die im alten Körper läutet und ihn zum Weiterleben ruft. Meine geschickten Ärzte haben einen weiteren Triumph errungen.
Meine Ärzte. Warhaftig langweilt mich, aber er ist die Vollkommenheit in Person. Es beruhigt mich, wenn ich seine Hände in meiner Bauchhöhle verschwinden sehe. Dann weiß ich, daß sie irgendeinen schlaffen roten Klumpen voller Krankheit zum Vorschein bringen und beiseite werfen und an seiner Stelle ein neues, gesundes Organ einsetzen. Warhaftig versagt nie. Aber er ist ein häßlicher Mensch, mit dieser fleischigen Judennase, den Hängebacken und den genießerischen Lippen. Dazu diese leichenhaft weiße Haut! Ein Genie, aber häßlich und langweilig im Umgang. War er jemals jung? Kauerte er jemals hinter einem Busch, um nackte Frauen beim Baden im Fluß zu beobachten? Er nicht. Nein, bestimmt nicht. Ob er sich jemals ins Gras geworfen und zum blauen Himmel hinaufgelacht hat, die Lerchentriller im Ohr? Warhaftig? Niemals!
Mordechai ist interessanter. Anmutig, immer höflich, ein klarer, kühler Verstand in einem kräftigen Körper. Man sieht ihn gern um sich. Und diese schwarze Haut! Als ich vierzig war und eine Delegation aus Guinea meine Abteilung besuchte, sah ich das erste Mal in meinem Leben Schwarze. Die glänzenden Gesichter, das büschelartige, wollige Haar, die langen Gewänder. Dazu erschreckend weiße Augäpfel, rosa Handflächen wie Gorillas, tiefe Stimmen, sehr fremdartig. Sie sprachen Französisch. Mordechai ist nicht ganz wie jene Afrikaner; er ist womöglich noch schwärzer als sie, aber sehr groß und sehr zivilisiert, und vom Dschungel haftet ihm nichts mehr an. Manchmal macht er mir Vorhaltungen, als ob ich ein Kind wäre, ein ungezogener Dreikäsehoch. Und immer ist er um meine Gesundheit besorgt. Ja, ein gewissenhafter Mensch, das muß man ihm lassen, ernst und immer in Sorge wegen diesem oder jenem. Er wirkt zuweilen allzu verständig, allzu vernünftig. Man fragt sich, wo die Dämonen in ihm stecken. Niemand ist ohne Dämonen, auch Mordechai nicht. Mir gefällt, daß er jung ist, wenigstens fünfzig Jahre jünger als ich. Dennoch sind wir Zeitgenossen, Männer des gegenwärtigen Augenblicks, beide vor relativ kurzer Zeit noch unbekannt. Aber während ich lange warten mußte, um zu werden, was ich bin, hat er es schon in jungen Jahren zu etwas gebracht. Sein Lächeln ist gutmütig; der Zynismus älterer Ärzte geht ihm noch ab. Er hat den Viruskrieg und die schlimmen Zeiten danach überlebt, und alles konnte seiner inneren Ruhe nichts anhaben, er hat Vertrauen in die Zukunft, geht in seinem Heilberuf auf. Er würde sogar jene heilen, die seine Vorfahren versklavten und verschleppten. Wogegen ich mich tausendfach an den Unterdrückern rächen würde. Nun, schließlich stamme ich aus einem harten Kriegervolk, während er Abkömmling sanftmütiger Urwaldbauern und Fischer ist. Jeden Morgen sucht er den Kontrollraum auf und sieht sich die kranken und sterbenden Menschen in allen Teilen der Welt an. Denkt, ich wüßte es nicht. Aber ich beobachte ihn. Er empfindet tiefes Mitgefühl für die Leidenden. Ein mitleidiger Mensch, in mancher Weise wie ein Kind. Kein Heiliger, aber manchmal fühlt man, daß er das Zeug zum Märtyrer hat.
23. Januar 2012
Plenarsitzung des erweiterten
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