Schadrach im Feuerofen
fragt er.
»Normal«, sagt Schadrach.
»Atmung?«
»Normal. Alles normal.«
Schadrach ist sich bewußt, daß es kein ihn bedrohendes Projekt Avatara geben würde, wenn der Vorsitzende in den nächsten Minuten auf dem Operationstisch stürbe: keines der drei Projekte ist bis zur Einsatzreife entwickelt, und wenn der Patient die Verpflanzung nicht überlebt, wird es sein Ende sein, ohne Hoffnung auf Reinkarnation, vielleicht sogar das Ende des Permanenten Revolutionsrates in seiner derzeitigen Zusammensetzung. Es wäre nicht schwierig, in diesen Minuten Schicksal zu spielen und dem Lauf der Dinge eine neue Wendung zu geben. Zum Beispiel könnte er gegen Warhaftigs Ellbogen stoßen, während der Chirurg mit dem Laserskalpell in der Bauchhöhle des Patienten arbeitet; hinterher würde er sich wortreich entschuldigen, aber der Schaden wäre getan. Oder er könnte es subtiler anfangen und den Operateuren irreführende Informationen über das Innenleben des Vorsitzenden geben: sie vertrauen Doktor Mordechai und werden sich zweifellos auf seine Angaben verlassen, ohne sie an den Skalen und Aufzeichnungsschreibern der Überwachungsgeräte nachzuprüfen. Auf diese Weise könnte er dem Patienten wahrscheinlich nicht wiedergutzumachenden Schaden zufügen, durch lebensgefährlichen Sauerstoffmangel oder dergleichen, ehe Warhaftig erkennen würde, was vorgeht. Und dann die Entschuldigungen, ich kann einfach nicht verstehen, warum meine Ablesungen so danebenlagen. Aber er weiß genau, daß er es nicht fertig bringt. Er sieht sich außerstande, dem Patienten Schaden zuzufügen, würde es nicht einmal tun, wenn er wüßte, daß der Vorsitzende noch in dieser Woche die praktische Verwirklichung des Projekts Avatara anordnen würde. In Gefahr oder nicht, er ist Arzt, ein gewissenhafter Arzt, noch immer jung und naiv genug, um seinen hippokratischen Eid ernst zu nehmen. Er hat gelobt, den Kranken zu helfen und vor Schaden zu bewahren. So sei es. Schadrach Mordechai ist kein Mann, der das Vertrauen seines Patienten mißbraucht, und der alte Mann ist sein Patient. Vielleicht ist dieses Verhalten töricht, aber es hat einen gewissen Anstand.
Die Operation geht reibungslos vonstatten. Zwei saubere Schnitte, und der defekte Abschnitt der Bauchschlagader kommt heraus. Das Ersatzstück wird eingepaßt und sauber vernäht. Die Herz-Lungen-Maschine hält unterdessen den Blutkreislauf in Gang. Der Patient, bei vollem Bewußtsein, beobachtet die Vorgänge um ihn mit wachem Interesse in den glitzernden schwarzen Augen. Hin und wieder nickt er kaum merklich, wenn Warhaftig besonders geschickte und schwierige Handgriffe vornimmt. Er scheint genau zu verfolgen, was vorgeht; und Schadrach begreift, daß der alte Mann mehr Zeit damit verbracht hat, Chirurgen bei der Arbeit zuzusehen als er selbst. Wahrscheinlich hat der Vorsitzende mittlerweile soviel gelernt, daß er manchen Eingriff eigenhändig ausführen könnte. Warhaftig verschließt den Einschnitt mit der elegant anmutenden Sicherheit eines Künstlers. Die Gewebe sind roh und gerötet, da sie erst vor weniger als zwei Wochen für die Leberverpflanzung aufgeschnitten wurden, und dieser Umstand verlangt nach besonderen vorbeugenden Maßnahmen, aber der Chirurg entledigt sich auch dieser Arbeit mit gewohnter Geschicklichkeit. Als alles vorbei ist, zeigt der Patient ein anerkennendes Lächeln – zahnlos, weil man ihm vor dem Eingriff sicherheitshalber die Gebißprothese herausgenommen hat. »Gute Arbeit«, nuschelt er zu Warhaftig. »Sie haben eine Auszeichnung verdient.«
Schadrach macht sich mit der herausgenommenen Bauchschlagader des Patienten davon. Er sagt Warhaftig – nicht, daß es diesen kümmerte-, daß er das Stück genauer untersuchen wolle, aber welche Untersuchungen könnten ihm etwas über diesen müden, schlaffen Schlauch aus überaltertem Gewebe verraten, was er nicht schon weiß? Er nimmt ihn mit, weil er ein authentisches Stück aus dem Körper des authentischen Dschingis Khan II. Mao ist, und weil er eine Sammlernatur ist: dieses Stück Aorta wird sein kleines Museum medizinischer Erinnerungsstücke bereichern. Ein Relikt von einem der berühmtesten Patienten der Geschichte. Schadrach kennt eine wahrscheinlich apokryphe Geschichte, nach welcher der Arzt, der die Autopsie an Napoleons Leichnam vornahm, den kaiserlichen Penis entfernte und als ein Andenken verwahrte, um ihn schließlich einem befreundeten Arzt zu vermachen, der das seltsame Souvenir zu einem horrenden Preis
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