Schafkopf
Wissenschaft weiß heute: Der Mensch entscheidet nicht vernünftig. Vernunft kommt erst ex post, zur Hintertüre rein. Man braucht sie, um Entscheidungen zu unterfüttern. Hinterher. Das ist die Krux.«
Das Spezi kam.
»Doch jetzt zurück zum Ausgangspunkt. Warum Atomkraft als Motiv im Hintergrund dienen könnte? Deshalb: Atomkraftmacher glauben. Die Gegner glauben auch. Wir können gar nicht anders. Schon das allein ist dazu angetan, Gewalt zu schaffen. Weil unterschiedliche Glaubensansichten aufeinanderprallen. Der hier glaubt das, der andere das. Den Gegnern der Atomkraft geht es um viel: Die Atomkraft bedroht in ihrem Denken nicht nur die eigene Existenz, sondern die der ganzen Welt, der Menschheit. Das ist nicht mehr privat. Im Gegenzug …«, und jetzt bestellte Hartung auch noch ein Getränk, »… ist das Argument der Atomkraftmeier ebenso stark: Wir retten die Welt vor CO 2 und so, verstehen Sie?«
Behütuns nickte. So hatte er das noch nie gesehen.
»Also zurück. Man ist dafür und Weltenretter oder dagegen und Weltenretter. Für beide Seiten hört der Spaß hier auf.
Vor allem, weil bei den Atomkraftmeiern auch noch massive wirtschaftliche Interessen ins Spiel kommen. Da geht's ums große Geld, ums ganz große. Doch das ist nicht der Punkt. Wer hier agiert – und ›hier‹, das ist jetzt hier im Mordfall, also auf der Täterseite –, der zieht, so würde ich das sagen, seine Kraft aus der Hilflosigkeit gegenüber dieser Übermacht. Sie kulminiert in Wut, in gnadenloser. Denn nirgends ist der Mensch verletzlicher und näher an der Aggression als im Ausgeliefertsein, in der Hilflosigkeit. Nur so kann ich mir die gemeinsame Verbindung zu Savitas auch erklären: Der Kampf gegen die Atomkraft kann ein zweiter Motor sein. Vielleicht auch ein Verstärker. Nur so macht's Sinn.«
Behütuns sah ihn zweifelnd an.
»Sie hatten mich gefragt«, schob Dr. Hartung nochmals nach. »Und ich versuche irgendwie, die Elemente zu deuten. Das eine ist privat, da steh ich zu. Sie müssen etwas über die Vergangenheit der Opfer herausfinden. In diesem Kontext muss ein Trauma unseres Täters stehen. Das andere, die Verbindung zu Savitas, könnte noch ein Hinweis sein. Ein Nebenpfad vielleicht, vielleicht auch ein Verstärker. Aber wir stellen fest: Die Verbindung zum Atom ist einfach da. Nicht zu leugnen. Bei jedem Opfer irgendwie. Zwar immer anders, und das ist das – oder eines der vielen – Rätsel. Der Konnex aber ist da. Vielleicht lieg ich auch völlig falsch – ich versuche es nur zu deuten.
»Mir bleibt das alles rätselhaft«, schüttelte Behütuns den Kopf.
»Na klar, mir auch«, lachte Hartung. »Gehn wir? Ich lade Sie ein.«
Er rief den Ober und bezahlte. Sie standen auf, gingen hinüber zu Auto und Rad. Der Parkplatz war jetzt gut gefüllt, an allen Tischen saßen Menschen.
»Soll ich Sie vielleicht nach Hause fahren? Ihr Rad passt locker in den Kombi.«
»Ach wo, vielen Dank. Ab jetzt geht es für mich doch nur mehr bergab.«
Das konnte sich Behütuns in diesem Augenblick nicht vorstellen. Allein der Gedanke, sich jetzt aufs Rad zu setzen … der Schweinebraten machte träge. Sein Blut war im Bauch und hatte dort zu tun, da war nicht mehr viel übrig für das Denken.
»Nur eine Frage habe ich noch: Das Morden – geht das weiter?«
»Ja doch, mit Sicherheit.«
»Und jeder von Savitas kann betroffen sein?«
»Nein, so würde ich das nicht sagen. Nur der, der irgendwie Verbindung hat zu dem, was ich mit Kindheitstrauma meine.«
Sie standen, schauten in den Wald und auf die Menschen dort im Wirtsgarten.
»Der Sonntag ist doch eigentlich ein schöner Tag«, sagte Dr. Hartung. »Da geben sich die Menschen dem hin, was sie wirklich brauchen. Nichtstun, Essen, Trinken.«
»Ja, das tut gut – und wieder nicht.« Behütuns strich sich über seinen Bauch.
»Das ist das Paradox. Und das findet sich überall.«
Behütuns sah ihn an.
»Darf ich Ihnen noch eine Frage stellen?«
»Ja bitte, jederzeit.«
»Ich frage mich, wenn ich Sie so reden höre: Sie als Psychologe, haben Sie denn das Leben ganz und gar durchschaut?«
»Um Gottes willen nein! Das will ich ja auch gar nicht. Kaum etwas wäre wohl langweiliger und öder.«
»Wie aber können Sie dann solche Dinge hier erzählen?«
»Ach wissen Sie, das mit dem Leben und dem Sinn ist so: Der Sinn ist Quatsch, der Unsinn ist der Sinn. Nur – man kann so nicht reden. Sein kann man so, bestens sogar, begründen kann man's nicht. Man muss sich halt
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