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Schalmeienklänge

Schalmeienklänge

Titel: Schalmeienklänge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Kress
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hier weg«, erklärte Jorry. »Sofort.« Seine Finger öffneten und schlossen sich um meinen Arm, und er sah mich aus Augen an, voller blitzender Tränen, die zu vergießen er zu ängstlich war. Ich nahm ihn auf den Arm und drückte ihn an mich. Er war fast zu schwer dafür.
    »Wir werden jetzt gehen, Jorry. Auf der Stelle. Hinab zur Taverne in Velin, in der Stadt.«
    »Auf den Ponys«, bat er.
    »Ja, ja, Schatz. Auf den Ponys. Sofort.«
    Niemand versuchte, uns aufzuhalten. Der Stallmeister stellte nicht einmal Fragen – ein weiterer Beweis der Unumstößlichkeit, mit der Rofdals Befehle ausgeführt wurden –, vielmehr reichte er uns eine Laterne. Ich glaube, wir taten ihm leid, weil wir die meiste unserer Habe im Palast zurückließen und uns den Weg den Berg hinab zum Ort im Dunkeln suchen mußten. Ich selbst tat mir nicht leid. Auf der Flucht zu sein war für mich ein Normalzustand, war es immer gewesen, nicht aus Feigheit, sondern als Vorsichtsmaßnahme.
    Der Weg war kurvenreich und schmal. Rofdal konnte seinen Palast mühelos verteidigen, wenn dies jemals notwendig werden sollte. Als um uns her die Dunkelheit hereinbrach, wurde Jorry allmählich ruhiger. Ich hörte es aus seinem veränderten Atmen; es hatte sich von raschem, verängstigtem Keuchen zu längeren, leiseren Zügen gewandelt. Und er drängte sein Pony nicht mehr so dicht an das meine heran und schaute nicht mehr über die Schulter zurück. Ich hatte mit leiser, beruhigender Stimme die ganze Zeit auf ihn eingeredet über ganz und gar unwichtige Dinge: die Blumen am Wegrand, die Abenddüfte nach Minze und Erde, ein Kaninchen, das zwischen den Steinen dahinflitzte; aber nun wirkte er ruhig genug, um nicht mehr solchen Zuspruch zu benötigen, und ich verstummte.
    Im Augenblick, da ich zu reden aufhörte, begann ich zu zittern.
    Wer hatte die Geschichte geschaffen, die ich dargeboten hatte? Es mußte jemand mit gewaltiger Beherrschung dieser Kunst gewesen sein, daß er nicht nur meine eigenen Geschichten veränderte, wie Brant das am vorangegangenen Abend getan hatte, sondern eine Geschichte schuf, die zuvor in meinem Innern überhaupt nicht existiert hatte. Solche Macht lag völlig jenseits des Geschichtenspielens, wie ich wohl wußte. Solche Macht stieß an die Grenzen der Gerüchte über die alte Religion. Seelenjägerei.
    Aber ich war nicht erjagt, nicht besessen gewesen – nur meine Geschichte. Mein eigenes Denken hatte ungehindert alle Bilder entwerfen können, wie ich es mit der winzigen weiblichen Figur getan hatte. Ich war nicht beherrscht, nur benutzt worden, um jemandes Geschichte darzustellen, zu der er sich selbst nicht bekennen mochte. Ich hatte wie eine Harfnerin fungiert, die eine Ballade sang, die ihr jemand anonym aus der Menge zugereicht hatte. Eine wortlose Ballade, mit dem deutlichen Geheimnis und den schillernden Bedeutungen aller wortlosen Dinge.
    Aber wer hatte diese Ballade verfaßt? Und wen sollte sie treffen?
    Ein Bild trat unwillkürlich wieder vor mein geistiges Auge. Just bevor die letzte Szene der Geschichte verschwunden war, hatte die Frau den Gegenstand gehalten, den sie der Hand der Gestalt im Umhang entrissen hatte. Der Nimbus weißen Lichts war erloschen; der Gegenstand offensichtlich. Aber ich und die Höflinge hatten den gehäuteten Mann angestarrt, von dem Blut und Hautfetzen herabfielen und hatten nicht auf den Gegenstand geachtet. So sehr ich mich nun bemühte, ich konnte nicht sehen, worum es sich handelte. Ich sah nur etwas Weißes und vage Rechteckiges. Ein Kästchen? Eine kleine Waffe? Ein Buch? Was war das Ziel dieser langen und verzweifelten Suche gewesen?
    Ich konnte es nicht deutlich erkennen.
    Schließlich verhüllte völlige Finsternis, die späte Dunkelheit des näher rückenden Mittsommers, den Pfad. Die Nacht war klar, und Sterne standen am Himmel, aber der Mond war noch nicht aufgegangen. Die Bäume säuselten leise wie flüsternde, dunkle Gestalten jenseits des Weges. Unten konnte ich die Fackellichter von Velin erkennen, und dann befanden wir uns auf der Höhe der Siedlung, wo die Taverne »Zur Tanzenden Spinne« hoch aufragte, um die Reisenden zwischen Velin und dem Palast zu beherbergen.
    Ich trat an die Küchentür, fort von den abendlichen Trinkern im Schankraum, und klopfte laut. Eine Küchenmagd öffnete und holte den Wirt.
    Ich hatte eigentlich nur fragen wollen, ob der Händler Kalafa sich im Schankraum aufhielt; mein erster Gedanke war, sofort zur Karawane zurückzukehren und mich zu

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