Schalmeienklänge
Ich versuchte, mir die Geschichte, die nicht meine eigene war, lebhaft vorzustellen, ohne sie zu erzwingen, in der Hoffnung, sie würde wieder aus meinen Fingern strömen. Ich war niemals besonders gut darin gewesen, beim Geschichtenspielen eine Geschichte bewußt herbeizuführen, aber diese neue hatte meinen Geist und meine Seele noch fest im Griff.
Der pinkfarbene Nebel kam auf, kreiste und verdichtete sich. Auf dem Moosboden machten sich der Mann und die Frau auf ihre Suche. Sie suchten, die zentrale Figur blieb reglos stehen, der Arm hob sich langsam in die Höhe, und die Frau ging auf die Figur zu. In dem Augenblick, da sie den weißen Strahlenkranz berührte, explodierte das Ganze in grellem Lichtschein zu dem gehäuteten Mann, dem klebrigen, hingeworfenen Umhang und der Frau, die triumphierend den Gegenstand hielt. Diesmal richtete ich meinen Blick aufmerksam darauf und nicht auf den grausam geschundenen Körper. Ein neuer Blitz, und alles verschwand.
Dieses letzte, grell aufflammende Licht, das aus der Finsternis hinter den Bäumen kam, blendete mich auf der Stelle. Weiße Fünkchen tanzten vor meinen Augen. Als ich wieder sehen konnte, schaute ich hoch vom moosigen Boden, schüttelte den Kopf, um ihn von den Lichtflecken und der leichten Trance zu klären – und sah mich Brant gegenüber, dessen Silhouette das Mondlicht zwischen zwei Bäumen umriß.
Mein erstes Gefühl, das ich sogleich um der Vernunft willen verdrängte, aber das so heiß und stark aufloderte, daß es mich erschreckte, war Verlangen. Ich begehrte ihn.
»Und diesmal hast du es gesehen«, konstatierte Brant.
Ich stand da, fühlte die Erregung noch immer meine Wangen röten und war dankbar für die Dunkelheit, in der er es nicht bemerken konnte. »Diesmal habe ich es gesehen.«
»Und was hast du gesehen?«
Ich zögerte. Auch wenn es keinen Grund gab, außer daß seine Präsenz mich verwirrte und seine Stimme noch mehr. Sie drückte nichts von der Gewalttätigkeit des vorangegangenen Abends aus, sondern nur tödlichen Ernst und etwas anderes, das ich nicht benennen konnte.
Ich sagte langsam: »Ich sah Schalmeien. Sonst nichts. Ein Paar in Silber gefaßte, mit Schnörkeln beschnitzte Schalmeien.«
»Keine Schnörkel, Fia. Blätter. Die Weißen Schalmeien mit der Blattschnitzerei.«
»Und was bedeuten sie?«
»Weißt du, wer die Geschichte in deinem Denken geschaffen hat, die du heute abend gespielt hast?«
Ich überlegte vorsichtig. Diese erste, wahnsinnige Woge von Verlangen war verebbt, und ich dachte wieder daran, daß dieser Mann hier große Macht innehatte und auch, daß er Kunstfertigkeiten demonstriert hatte, die ich niemals für möglich gehalten hätte.
»Fia, was du mir jetzt verschweigst, kann ich deinem Denken entnehmen.«
»Dann hol es dir bei dem, der mein Leben mit dieser Geschichte aufs Spiel gesetzt hat!«
»Du weißt es nicht«, sagte Brant, und das war keine Frage.
»Ich dachte, du wärst es gewesen.«
»Nein. Ich nicht.« Er blieb reglos zwischen den schwarzen Bäumen stehen, und mir erschien seine Haltung zu jenem Zeitpunkt als die lauernde Reglosigkeit drohender Gefahr.
»Brant. Welche Künste auch immer in Veliano praktiziert werden – ich will es gar nicht wissen. Weder die Künste noch die Intrigen. In weiteren vier Tagen werde ich mit Kalafas Karawane Veliano verlassen, und diese vier Tage lang werde ich keine Geschichten spielen, keine ansehen und keine anhören.«
Brant näherte sich mir und legte eine Hand auf meinen Arm. Ich konnte sein Gesicht nicht erkennen – er stand halb gegen das Mondlicht gewandt –, aber ich fühlte, wie ich unter seiner Berührung erschauderte.
»Du wirst nicht mit der Karawane abreisen.«
Mein Kopf flog mit einem Ruck nach oben.
»Du wirst nicht abreisen, weil ich dich hier brauchen kann.«
Vorsichtig und ohne hastige Bewegungen entzog ich meinen Arm seiner Hand. Ich hatte mich in der Gewalt; meine Stimme klang ruhig, meine Furcht stieg nicht bis in meinen Gesichtsausdruck. Menschen lassen sich manchmal wie Tiere durch demonstrative Furchtlosigkeit zurückdrängen, vorausgesetzt, sie treten nicht in Rudeln auf. Brant war alleine.
»Ich werde nicht bleiben, Brant. Jorry und ich brechen mit der Karawane auf. Du hast mich eine Diebin, eine Lügnerin und eine Hure genannt; nichts von alledem war ich, seit ich dich vor zehn Jahren bei Mutter Arcoa verlassen habe. Du warst damals wütend auf mich, und vielleicht hattest du auch Grund dafür. Ich kann das Vergangene
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