Schalmeienklänge
vergewissern, daß sie, und ich mit ihr, tatsächlich Veliano verlassen würde. Doch als der Wirt auf mich zutrat, zögerte ich. Zu Kalafa zurückzukehren würde bedeuten, wieder mit ihm ins Bett zu gehen, und was ich vor zwei Tagen als recht reizvoll empfunden hatte, erschien mir nun unmöglich. Ich zog es vor, mit Bargeld für Jorrys und meine Mitreise zu bezahlen, auch wenn es meinen schmalen Geldbeutel ausplünderte. Kalafa würde nicht begeistert sein.
»Ich möchte eine Kammer für die Nacht«, erklärte ich dem Wirt.
Er musterte mich. »Bist du eine Harfnerin?«
»Nein«, antwortete ich übertrieben schnell. Ich wollte in Veliano nicht wieder auftreten. Wer wußte, was sich hier noch alles ereignen würde. »Nur eine Reisende.«
Der Wirt kniff die Augen zusammen. Ich sah, daß er versuchte, zu einem Schluß zu kommen, was ich nun war, warum ich an der Küchentür und nicht im Schankraum vorgesprochen hatte und ob ich wohl bezahlen konnte. Daran war ich zumindest gewohnt; ich sah ihm unbewegt ins Gesicht, und er wies uns eine kleine Kammer an der Rückseite des Gasthofes im Erdgeschoß zu. Der kleine Auftritt, so unbedeutend er auch war, machte mich irgendwie wieder zuversichtlicher.
»Wann verlassen wir Veliano?« wollte Jorry wissen. Er wirkte niedergeschlagen, doch der gequälte Ausdruck stand nicht mehr in seinem Gesicht.
»Wenn die Karawane aufbricht, um den Rückweg durch die Berge anzutreten. In vier Tagen.«
»Ich möchte weg.«
»Ich auch«, pflichtete ich ihm bei und strich das hellbraune Haar aus seiner Stirn. »Du solltest jetzt schlafen.«
»Erzähl mir eine Geschichte.«
›Erzähl mir eine Geschichte!‹ Jorry bat niemals: »Spiel mir eine Geschichte.« Ich lächelte schräg. So wie Schuhmacherskinder immer barfuß laufen und Silberschmiedstöchter sich nur Blumen ins Haar stecken.
»Was für eine Geschichte?«
»Eine von Pferden. Es sollten Pferde drin vorkommen und Hunde und Falken, sonst nichts.«
»Keine Menschen?«
»Keine Menschen«, entschied er unumstößlich. Dachte er an die drei Geschichten, die er auf dem Schloß gesehen hatte, meine zwei und die von Brant, in der die Menschen nur einander weh taten und litten?
Ich untersuchte unsere Strohlager auf Ungeziefer – es war keines da –, gab Jorry etwas Brot und Käse zu essen und deckte ihn zu. Dann begann ich mit einer wild improvisierten Geschichte von zwei Pferden, die sich mit einem Hund anfreundeten, der sich für einen Falken hielt. Jorrys Augenlider sanken herab. Ehe die Geschichte zu Ende war, war er glücklicherweise eingeschlafen, denn ich hatte keine Ahnung, wie die absurde Erzählung ausgehen sollte.
Ich saß neben ihm in der Dunkelheit und lauschte auf den Lärm aus dem Schankraum. Ich wollte kein Bier, kein Essen, keine Unterhaltung. Ich wußte nicht, was ich wollte, nur daß ich angespannt und unruhig war und daß der Duft der Sommernacht, der durchs Fenster zog, Anspannung und Ruhelosigkeit nur noch schlimmer machte.
Nach langer Zeit ging der Mond auf. Jorrys Gesicht wirkte in seinem bleichen Licht glatt und friedlich, und seine Wimpern warfen einen zarten Schatten auf seine Wangen. Ich hatte mich getäuscht, als ich mich gebrüstet hatte, Jorry hätte in seinem Äußeren nichts von Brant, sondern alles nur von mir. Die dichten, langen Wimpern hatte er von Brant.
Ich rüttelte Jorry vorsichtig an der Schulter; er wachte nicht auf. Also trat ich in meiner Rastlosigkeit ans Fenster und kletterte hinaus in den Mondschein. Auf dieser Seite stieß der Gasthof an den Stall, dahinter dehnten sich die Wälder. Ich schlüpfte in den Wald, bis man mich vom Stallhof aus nicht mehr sehen konnte, ich mich aber noch nahe genug am Haus befand, daß ich hörte, wenn Jorry nach mir riefe. Er würde sich nicht aufregen, daß ich fortgegangen wäre, wohl aber, wenn er sähe, was ich tat. Ich trank die Erste Phiole.
Der Boden war kahl, wo man Feuerholz gesammelt hatte, und die Bäume standen nicht besonders dicht. Es fiel genügend Mondlicht hindurch, daß man sehen konnte. Um mich herum begann es zu rascheln, und ich nahm die üppigen, erdigen Gerüche wahr: Lehm und faulendes Holz und den scharfsüßen Duft der Weißdornblüten. Ich setzte mich auf einen umgestürzten Baumstamm, beugte mich über ein Stück moosigen Boden und streckte die Hände aus. Der Platz genügte. Ich trank die Zweite Phiole.
Helligkeit, Farben, Geräusche. Dann Zeitlosigkeit und die undefinierbaren Musiknoten, die den Geist in Trance versetzten.
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