Schalmeienklänge
Frühlingsblüten… in den Bergen.‹ Er wird dich zu Jorry führen.«
Wieder ein Anfall, daß er die Augen schloß. Ich gab ihm etwas Wasser zu trinken.
»Dreh mich… auf die linke Seite.«
Ich tat es sehr behutsam, und er schien dann bequemer zu liegen. Ich erkannte in seinen Augen den Moment, da er begriff, wo er sich befand und welche Mauern sich gefährlich zu ihm herabneigten.
»Brant. Was du von Jorry erzählt hast… ist das wahr?«
Sein Blick suchte den meinen. Als Antwort flüsterte er: »Am Tag, als man mich festnahm, erteilte ich…«, ein Schmerzanfall, bei dem er um Luft rang, »…Befehl, dich aus Veliano wegzuschaffen. Mit Gewalt. Weil du freiwillig… nicht gehen würdest.«
Er machte die Augen zu. Ich hockte mich auf die Fersen zurück und strich ihm wieder das Haar aus der Stirn. Ich glaubte ihm nicht.
Aber selbst so – selbst mit seinen Lügen – rührte mich der gebrochene, leidende Brant mehr als damals, als er gesund und bedrohlich zwischen Jorry und mir gestanden hatte, und ich dachte, wie dumm es war von einer Frau wie mir, jetzt Zärtlichkeit zu empfinden, weil ein Mann hilflos vor mir lag. Cynda kam ihm liebevoll entgegen, wenn er ihr seine ganze Aufmerksamkeit widmete; ich tat das, wenn er sie nirgendwohin lenken konnte. Und doch hatte er es getan. Er hatte mir gesagt, wo ich Jorry finden konnte, er hatte gesagt, er hätte sich vor Leonore weiter exponiert, um mich aus der Gefahrenzone zu bringen. Aber entsprachen diese Äußerungen – eine oder auch beide – der Wahrheit, oder hatte Brant sie vorgebracht, weil er glaubte, daß es das wäre, was ich hören wollte – was er sagen mußte, damit ich ihn am Leben hielt? War Jorrys Aufenthaltsort nur ein weiteres Märchen, und sollte der Zuhörer wieder so lange überzeugt werden, wie das Trugbild aufrechtzuerhalten war?
Er stöhnte leise, und ehe ich wußte, was ich tat, legte ich meine Finger auf seine Lippen. Die obere war aufgerissen und blutig, beide waren angeschwollen. Ich hatte ihn geliebt, gefürchtet, vor ihm die Flucht ergriffen, ihn gehaßt – außer Jorry war Brant der Mensch gewesen, der mein Leben am entscheidendsten beeinflußt hatte, selbst während der zehn Jahre, die ich auf der Flucht vor ihm zugebracht hatte. Und noch immer konnte ich nicht sagen, ob er log.
»Brant.« Ich beugte mich über ihn, und mein Haar streifte seine blutige Wange. »Brant, mach die Augen auf.«
Er tat es, und ich zog die Weißen Schalmeien aus meiner Bluse.
Seine Augen wurden größer, und ich sah darin, was ich erwartet hatte und zugleich mehr als das: Schock, Habgier, Verwunderung, Berechnung. Er versuchte, den linken Arm zu dem weißen Strahlenbündel zu heben, aber er war zu schwach, und der Arm fiel zurück.
»Cynda hatte sie«, sagte ich und führte dann beschämt über meine Grausamkeit die Schalmeien an den Mund.
Er war bewußtlos gewesen, als ich sie zuvor gespielt hatte: Nun war er es nicht. Sein Blick wurde so starr wie der der Wachsoldaten und sein Gesicht ebenso ausdruckslos. Die Persönlichkeit der Wachen hatte ich nicht gekannt, die von Brant dagegen wohl. Das also war es, was die Priester der Vier Schutzgötter Blasphemie genannt hatten, und im Namen der Götter, an die ich nicht glaubte, sie hatten recht gehabt. Brant war zu einem Objekt, einem Werkzeug geworden, wie ich es niemals gewesen war, nicht einmal, als ich diesen Begriff gebraucht hatte, zu einem Werkzeug ohne Willenskraft und Leben und doch nicht tot. Ich hätte nun mit seinem geschundenen Körper alles anfangen können, was ich wollte. Und dieser Körper hatte mir Schmerzen zugefügt. Ich erinnerte mich jetzt an die Wirkung seiner Fäuste auf meinen Leib, an das Entsetzen und die Demütigung. Und ich konnte mit ihm machen, was ich wollte.
Meine plötzlichen grausamen Anwandlungen drehten mir den Magen um. Und wenn ich mich schon nicht davon frei machen konnte, daß solche gespenstischen Bilder durch mein Denken tanzten, was würde dann erst so einer wie Perwold mit den Weißen Schalmeien anstellen?
Auch das vermochte ich mir auszumalen.
Schnell trank ich die Geschichtenspielerphiolen eine nach der anderen leer, ohne eine Pause dazwischen zu machen, um abzuwarten, ob eine sich nicht mit der weißen Levkojenblütendroge vertrug. Die Gefahr für meinen Körper, falls eine solche bestand, hätte mir früher vielleicht einen eisigen Schauer über den Rücken gejagt, schien jedoch jetzt nur eine von vielen Gefahren zu sein. Ich mußte herausfinden, ob
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