Schalmeienklänge
Keine Priester?«
»Nein!« antwortete er heftig und fluchte. Ich wandte den Blick von den leidenschaftlichen Verwünschungen ab, die aus dem leidenschaftslosen Gesicht kamen. Die Priesterschaft war also Leonores Werkzeug, nicht ihr Verbündeter, und sie benutzte dieses Werkzeug, um Freisassen zu rekrutieren. Ich überlegte krampfhaft, was ich noch in Erfahrung bringen mußte.
»Und der König? Weiß er, daß die Weißen Schalmeien gefunden sind, oder befehligt Leonore euch im geheimen?«
»Im geheimen.«
»Hat sie noch mehr Männer hierherkommandiert?«
»Sie werden abkommandiert, falls ich keinen Kurier zurückschicke.«
Ich konnte seinen Kurier nicht unter den Bann der Schalmeien setzen und ihn losschicken, um Leonore zu täuschen; der Zauber würde ungefähr zu der Zeit, da er am Schloß ankommen mußte, seine Wirkung verlieren. Durch meine kopflose Flucht mit Brant hatte ich den einzigen Plan durchkreuzt, der mir zu unserer Rettung eingefallen war.
»Befiehl deinen Männern, die Hütte zu umstellen und jeden Angriff abzuwehren. Postiere auf dem äußersten Ring von Leuten einen Kurier, der mir Bescheid gibt, wenn der Kampf beginnt. Laß die Männer die drei bewaldeten Seiten der Hütte decken.« Und ich fügte langsam hinzu. »Aber nicht die Seite von der Felswand. Die Felswand soll keiner beobachten.«
»Ja«, antwortete der Mann.
»Wie heißt du?« fragte ich. Es war dumm; es würde keine Rolle spielen. Menschen tragen Namen, und er war kein Mensch mehr. Ich hatte ihn seiner Menschlichkeit beraubt.
»Eallow.«
Ich kehrte in die Hütte zurück. Durch das Loch in der zerfallenen Rückwand sah ich die Klippe, die in steinernen Simsen zu einem kleinen Fluß tief unten hinabfiel. Die Felswand würde keine Fußspuren hinterlassen, denen man folgen konnte. Und der Fluß auch nicht, wenn ich die Stelle, wo ich ihn verließ, sorgsam aussuchte. Mir standen etwa drei Stunden zur Verfügung, ehe der Zauber über Leonores Männer seine Wirkung verlor und sie mir folgen würden. Und noch länger, wenn sie nicht gleich begriffen, wie ich verschwunden war, weil mich keiner gesehen hatte. Sie mochten mein Verschwinden sogar übernatürlichen Kräften zuschreiben; schließlich waren die meisten von ihnen Bauern, und nur acht verstanden etwas von Bewußtseinskünsten. Und wenn man mich aufspürte und fände, so hätte ich immer noch die Weißen Schalmeien. Die Schalmeien und das Wissen von Jorrys Aufenthaltsort, und kein anderer wüßte, wie er mir dorthin folgen konnte.
Keiner bis auf einen.
Brant lag reglos mit offenen Augen und fixierte die herabhängende Decke, weil er immer noch unter dem Einfluß des Zaubers stand. Ich kniete neben ihn.
»Brant. Leonore weiß, daß Jorry dein Sohn ist. Als sie… dich gestern abend verhört hat, hast du da gesagt, daß du Jorry weggeschickt hast, damit er in Sicherheit wäre?«
»Ja.«
Auch der stärkste Mann gibt unter der Folter nach; es wäre Gefühlsduselei, etwas anderes zu glauben. Leonore wußte es und war deshalb das Risiko eingegangen, Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, indem sie Brant offiziell einkerkern ließ. Auch ich hatte es rational gewußt – nicht aber in meinen Knochen, Muskeln und Eingeweiden.
»Hast du ihr gesagt, wo Jorry versteckt ist? Weiß sie Bescheid?«
»Nein«, antwortete er, und ich holte wieder Luft.
»Warum hat sie mich nicht ebenfalls festnehmen lassen?«
»Es bestand kein Grund…, Rofdal noch weiter zu treiben. Ich würde genügen.«
»Und so war es ja auch. Allerdings nicht ganz, noch nicht ganz.«
Noch nicht. Aber wenn er wieder festgenommen und noch schlimmer gefoltert würde? Bis auf Brants Arm hatte Perwold bislang nur gespielt. Er hatte geglaubt, er hätte Zeit. Doch inzwischen hätten Perwold und Leonore – und sie spielte nicht – erkannt, daß ihre Zeit ablief. Und inzwischen wüßten sie, daß ich die Weißen Schalmeien im Besitz hatte und versuchen würde, mich zu Jorry durchzuschlagen.
Um einen ganzen Baum zu identifizieren, brauchte man nur ein einziges Blatt zu betrachten. Brant hatte mir die Wahrheit über Jorrys Aufenthalt gesagt. Vom Schmerz überwältigt hatte er seine Lage nicht abschätzen können, hatte mir meinen Sohn zurückgeben wollen, ehe er starb, und es kam mir plötzlich vor, als erführe ich aus diesem einen Verhalten, in welchem Licht ich alle anderen seiner Taten seit meiner Ankunft in Veliano sehen mußte. Er hatte mich im Gasthof nicht umgebracht, obgleich er sich damit selbst in Gefahr brachte;
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