Schalmeienklänge
trieb mich weiter, daß ich das Pony zum Traben und dann zum Kanter drängte, der auf den gewundenen Pfaden und unterhöhlten Wiesen tödlich sein konnte. Zweige schlugen mir ins Gesicht. Ästchen verhedderten sich in meinem Haar, das Pony scheute und wollte langsamer gehen, aber ich grub meine Hacken in seine Flanken und trieb es voran. Taumelnd, keuchend und zerschrammt bogen wir in den Stallhof des Schlosses ein, wo ich mich von meinem Reittier warf und auf den Palast zulief. Meine Beine, die zu lange um das Pony gekrümmt gewesen waren, gaben unter mir nach, und ich stürzte. Ein Stallknecht schaute verwundert zu.
»Cul, Geschichtenspielerin, du bist aber früh ausgeritten. Bist du verletzt? Laß dir helfen. Zum Teufel! Kein Grund, mich zu schlagen.«
Ich ließ ihn stehen, und er blickte finster hinter mir drein, als ich in den Palast wankte, vorbei an Wachen, die rasch hochschauten, ob ich verfolgt wurde. Das wurde ich zwar, aber wodurch, konnten sie nicht durchschauen.
In einem schummrigen Gang lehnte ich mich an die Wand, bis ich wieder zu Atem gekommen war, und trank die erste der vorbereiteten Flaschen mit der weißen Droge. Weiß… Die Droge selbst war bei der Destillierung weiß geworden wie die Schalmeien. Die Farbe meiner Angst war Weiß.
Ich fühlte nichts.
Keine Musik, keine Helligkeit, weder Schmerzen noch Hochstimmung. Ich stand ganz normal an den Stein gelehnt, und der Gang streckte sich vor mir dahin. Hatte ich bei der Destillierung der Droge einen Fehler begangen? Oder wirkte die Droge sich erst beim Klang der Weißen Schalmeien aus? Vorsichtig und langsam (es war Wahnsinn gewesen, bereits soviel Aufmerksamkeit auf mich zu lenken) schloß ich die Augen und versuchte nachzudenken. Dann ging ich zurück zum Stallhof, führte mein keuchendes Pony um das Schloß herum zur anderen Seite in den Schatten des Priesterheimes, aber nicht allzu nahe heran. Der Stallknecht war fort. Bis auf ein paar wenige Wachsoldaten sah ich niemanden. Es war sehr früh, der Sonnenaufgang hatte noch kaum eingesetzt, und die Dienstboten, die bereits bei der Arbeit waren, hatten auf der anderen Seite des Schlosses zu tun, in der Nähe der Brunnen und des Küchenhofes. Über mir dehnte sich kühl, blau und wolkenlos der Himmel, und die Rötung im Osten war bereits verblaßt.
Ich trat ans Tor des Priesterheims. Zwei Wachsoldaten blinzelten mich schläfrig an.
»Öffnet das Tor. Ich habe drinnen zu tun.«
Sie grinsten mich an, da sie es für einen Scherz hielten. Priester bestellten sich keine Geschichten.
»Öffnet das Tor«, wiederholte ich lauter. Einer blickte finster drein, der andere grinste immer noch. Ich zog die Weißen Schalmeien aus meiner Schärpe und hob sie an die Lippen. Im Augenblick, ehe ich hineinblies, stand der Gedanke deutlich vor mir: Wenn das fehlschlägt, kann ich es immer noch als Witz ausgeben, ich kann dann immer noch die Weißen Schalmeien hinwerfen, um Leonore abzulenken, und dann fliehen.
Ich blies.
Die Melodie klang hoch und süß, daß mir Tränen in die Augen schossen. Das war keine Bewußtseinsmusik, sondern die Musik schlechthin, alle Musik vom Herzen der Welt, alles, was jedes andere klägliche Lied angestrebt und um Meilen verfehlt hatte. Das Flötenspiel des Jungen – wie hatte es mich nur rühren können? Dies war die von der Seele des Menschen vergeblich gesuchte und vergeblich ersehnte Musik, denn dies war die Musik, wie sie der Seele entsprach, Note für Schicht, Schicht für Note, und sie ließ die Schichten verschmelzen, daß ich zum ersten Mal als geschlossenes Ganzes dastand. Immer und immer wieder blies ich auf den Weißen Schalmeien, und dreimal wurde ich in einer Flut üppiger Pracht, für die es keine Worte gab und geben wird, vollendet. Ich war die Meisterin von Musik und Bewußtsein und aller der Zeit erwachsenen Schöpfung.
Die Wachsoldaten starrten mich mit ausdruckslosen Mienen und seelenlosen Augen an. Ich sah, daß sie ohne die Drogen nicht vervollständigt, sondern vielmehr noch stärker zerstückelt worden waren, und ich hatte den Eindruck, als verstünde ich ohne Worte und Vernunft, warum das so war.
»Öffnet das Tor.«
Sie taten es sogleich. Ein Teil meines Inneren dachte, daß ich, die ich aus Machtlosigkeit mir ein armseliges Leben aufgebaut hatte, zittern müßte, wenn ich bewaffneten Männern Befehle erteilte, aber ich zitterte nicht. Ich besaß die Weißen Schalmeien.
»Bleib hier«, sagte ich zu einem, und er blieb. »Führ mich zu Lord Brant.
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