Schalmeienklänge
Wenn wir anderen Wachen oder Priestern begegnen, wirst du ihnen sagen, daß die Königin mich geschickt hat. Hast du die Schlüssel, um Lord Brants Zelle zu öffnen?«
»Nein«, antwortete er, und der gewöhnliche Ton seiner Stimme war der erste Schock.
»Wer dann?«
»Ich weiß es nicht.«
»Führ mich zu Lord Brant.«
Er tat wie geheißen, und niemand stellte uns Fragen auf den steilen Treppen und in den langen Gängen bis zu Brants Zelle. Sie lag alleine am Ende eines scharfwinkligen, tief in die Erde führenden Ganges; niemand hätte Brant schreien hören. Niemand würde mich nun hören außer den zwei Wachen vor der Tür. Der ältere zog sein Schwert und ich meine Schalmeien. Seine Waffe war die schnellere, aber meine die überraschendere. Ich blies meine Melodie, und sein Gesicht mit den harten Augen wurde steif und reglos.
»Öffnet die Zelle!«
Er hatte die Schlüssel. Er sperrte die Zelle auf. Ich nahm die Fackel von der Wand und ging hinein.
Brant lag nackt auf der Seite am Boden. Ich dachte, er wäre schon tot. Blutergüsse und blutige Schwielen quollen auf seiner Brust, seinen Beinen, Lenden und seinem Bauch, aber nirgendwo so schlimm wie in seinem Gesicht. Was Leonore seinem Denken nicht hatte mit ihren Bewußtseinskünsten entlocken können, hatte sie versucht, aus ihm herauszuprügeln. Sein Gesicht war so geschwollen und blutig, daß ich ihn nicht hätte erkennen können, wäre er ein anderer gewesen. Aber diesen Mann kannte ich. Ich sank neben ihm zu Boden, kniete in seinem Blut und faßte nach dem reglosen Körper. Er rührte sich nicht.
»Brant.«
Ich lauschte an seiner geschundenen Brust; der Arm darunter war gebrochen und lag verdreht unter ihm. Doch sein Herz schlug noch. Ich fand Wasser und spritzte es in sein Gesicht. Er ächzte, und als er die Augen aufschlug, sah ich, daß er mich trotz seiner Schmerzen erkannte.
»Brant!«
Doch er verlor wieder das Bewußtsein. Das hatte ich nicht vorausgesehen, ich hatte nicht weiter vorausgedacht, als Brant geschunden vorzufinden oder nicht, und wenn nicht, ihn mit den Weißen Schalmeien zu zwingen, mir Jorrys Versteck zu verraten. Der Gedanke an dieses Ziel hatte mich vorangetrieben, ich hatte mich daran geklammert wie ein Ertrinkender an ein vorbeischwimmendes Trümmerstück, ohne sich zu fragen, ob es halten wird. Aber meine Antriebskraft hatte nicht ausgereicht. Brant konnte mir nicht sagen, was er wußte, und was ich zu wissen geglaubt hatte – nämlich daß ich hineingehen, ihm Jorrys Aufenthaltsort abpressen, aus seinem Gefängnis marschieren und ihn Leonore überlassen könnte –, war auch nur eine Idee gewesen, an die mein Bewußtsein sich geklammert hatte, um die Angst zu dämpfen. Ich konnte ihn nicht liegenlassen. Wäre er noch gesund und kräftig gewesen und hätte ich ihm wehrlos wie stets gegenübergestanden, selbst dann hätte ich ihn nicht zurücklassen können. Nicht für Leonore.
Ich strich über seinen Körper. Er lag reglos, von Panik erfüllt suchte ich erneut seinen Herzschlag und fand ihn, und er war stärker als erwartet. Der gebrochene Arm – es war der rechte, mit dem er das Schwert führte – war über dem Ellbogen bis auf den Knochen zerschmettert worden. Ich zerrte ihn gerade, wohl wissend, daß ich es nicht richtig machte und daß vermutlich niemand es könnte. Ich band den Arm mit meiner Schärpe an den steifen Griff einer Peitsche, weil ich nichts Besseres finden konnte. Die Peitschenschnur klebte von Blut. Wenn Brant überlebte, würde er niemals wieder ein Schwert führen können.
Als ich die Wachen rief, bewegten die sich so natürlich und ohne alle Steifheit von Körper oder Gliedmaßen im Vergleich zur Starre ihres Gesichts, daß Aggressivität wie Feuer in mir aufloderte und ich am liebsten endlos auf sie eingedroschen und sie nicht bewußtlos geschlagen hätte, sondern so, daß sie den zermalmenden Schmerz gespürt hätten, wie einer von ihnen oder sie alle Brant geschlagen hatten.
»Tragt ihn. Du und du. Und tragt ihn so vorsichtig, wie ihr könnt. Wenn ihr seine Schmerzen verschlimmert, bringe ich euch um. Versteht ich mich?«
»Ja.«
»Ja.«
»Ja.«
»Ja.«
Vier Antworten, und aus jeder hörte ich Angst heraus. Demnach wußten sie Bescheid. Trotz ihrer ruhigen, bleichen Gesichter registrierte ein Teil ihrer Psyche den Verlust ihrer Willensfreiheit und war darüber entsetzt, und ich war in meinem Zorn glücklich darüber.
Im obersten Gang, ehe wir im Erdgeschoß auftauchten, stießen wir
Weitere Kostenlose Bücher