Schamland
und produzieren gemeinsam Kategorien wie »richtig« und »falsch« oder »gut« und »schlecht«. Es verwundert daher nicht, dass sich in der Tafelbewegung, in Politikerkreisen oder sonstigen Bezugsgruppen »Überzeugungsgemeinschaften« herausgebildet haben, die sich wechselseitig in ihren Ansichten bestätigen.
Das 20-jährige Bestehen von Tafeln verdeutlicht mehrere dieser veränderten Orientierungsrahmen, die für die meisten von uns inzwischen zu einer gemeinsam geteilten Normalität gehören. Die Perspektive auf Armut hat sich durch die Existenz von Tafeln schleichend verändert – und statt zu einer Skandalisierung hat sie zu einer Normalisierung der bestehenden Situation beigetragen. Die Grenzen der Erträglichkeit, des Mitleids und der Dankbarkeit wurden neu ausgehandelt, ebenso wie die der Scham und Beschämung oder die Unterscheidung zwischen ›würdigen‹ und ›unwürdigen‹ Armen. Auch die Mechanismen der sozialen Deklassierung (›Hartzer‹, ›sozial Schwache‹, ›Sozialschmarotzer‹) sind leichtgängiger geworden und werden immer mehr Menschen zugeschrieben.
In der Summe kam es zu erheblichen Veränderungen, die aber aufgrund der sich schleichend verändernden Referenzrahmen nicht weiter auffallen. Zunehmend werden Zustände als »normal« empfunden, die es vorher nicht waren. Nur wenige stören sich wirklich noch an den zahlreichen Vorgängen, die damit verbunden sind. Selten werden sie gehört. Der Diskussionsbedarf sinkt oder bleibt ganz aus.
Der mit den Tafeln verbundene gesellschaftliche Wandel gestaltet sich als ein schleichender Prozess. Er setzt sich aus unzähligen kleinen Einzelereignissen und Veränderungen im Alltag zusammen, die zunächst unbemerkt bleiben. Die immer weiter fortschreitende Praxis der Tafeln und anderer armutsökonomischer Angebote wirkt sich jedoch in der Summe zunehmend auf Wahrnehmungen, Denken, Fühlen und Handeln aller Beteiligten aus. Und verändert dabei die Grundlagen des gesellschaftlichen Solidaritätsgefüges. Während der legitime Anspruch der Bürger auf wohlfahrtsstaatliche Hilfe erodiert, werden zeitgleich freiwillige Helfer vom Staat aktiviert, um ein privates Wohltätigkeitssystem immer weiter zu etablieren.
Wegen der Unterschwelligkeit dieser Prozesse ist es schwer, davor zu warnen. Wie soll man etwas ernst nehmen, was man noch nicht oder nicht mehr sehen kann und dessen Konsequenzen sich erst in der Zukunft zeigen werden? Für eine aufgeklärte Gesellschaft sollte es dennoch selbstverständlich sein, sich nicht blind diesen Praktiken zu beugen, sondern zu versuchen, die Ursachen dieser Entwicklung zu kennen, um negative Folgen zu verhindern.
Ein Endpunkt dieses schleichenden Wandels unserer Gesellschaft ist bislang nicht in Sicht. 20 Jahre Tafeln sind jedoch kein gutes Omen. Sie sind die Vorläufer einer langwierigen gesellschaftlichen Entwicklung, die sich schleichend vor unseren Augen abspielt. Schleichend, aber nicht gänzlich unbemerkt, denn dieses Buch macht zumindest einen Teil des Wandels sichtbar. Die Lehre im Schamland lautet: Wer das Gute in den nächsten 20 Jahren neu erfinden will, sollte nicht Fehler der letzten 20 Jahre wiederholen.
Epilog
Das Ringen um die richtige Interpretation der Wirklichkeit findet in einer demokratisch verfassten Gesellschaft im öffentlichen Raum statt. Einer meiner persönlichen Höhepunkte war die Verkündung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts im Februar 2010 zur Regelwidrigkeit des Feststellungsverfahrens der Hartz- IV -Regelsätze für Kinder. Ich fuhr nach Karlsruhe, um bei der Urteilsverkündung anwesend zu sein. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts stimmte mich hoffnungsfroh und zeigte mir, dass es noch ein ernstzunehmendes Korrektiv in diesem Land gibt. In der ersten Reihe des Gerichtssaals saßen prominente Politikerinnen und Politiker (darunter Ursula von der Leyen, die damalige Schirmherrin des Bundesverbandes Deutsche Tafel e. V.), die gleich nach der Urteilsverkündung eilig Pressekonferenzen gaben, auf denen sie versicherten, dass sie schon immer das taten, was das Bundesverfassungsgericht gerade verlangt hatte.
Aber so ganz stimmte das nicht. Denn zuvor hatten sich die Politiker eine deutliche Rüge anhören müssen. Eindringlich wurde ihnen von den Richtern »mehr Nähe zur sozialen Realität« angemahnt. Eine der anwesenden Richterinnen, Christine Hohmann-Dennhardt, hat an anderer Stelle einmal gesagt, was sie unter sozialer Gerechtigkeit versteht. »Dass
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