Schandweib
hoffen, dass sie in den Hafen der Ehe mündet.«
»Aber wenn es keinen gemeinsamen Hafen der Ehe für die Liebenden gibt?«
»Dann gilt es, auf Gottes Hilfe zu vertrauen. Denn der Herr in Seiner Gnade nimmt sich Seiner Schäfchen an.«
Ruth schluckte und schwieg.
»Doch du, liebe Ruth, solltest auch den Mut haben, der Weisheit und Güte deines Vaters zu vertrauen, wenn dich ein solcher Zweifel bedrängt. Dein Vater weiß, was für dich das Beste ist, und wird seine Entscheidungen über deine Zukunft wohl bedenken und weise treffen.«
»Aber wenn daran mein Herz zerbräche, Frau Claussen?«
»So schnell zerbricht es nicht. Der Sturm der Gefühle, der einem solches vorgaukelt, ist befeuert durch die Jugend. Das Leben aber reicht weit über die Jugend hinaus. Nicht die Gefühle,die jetzt in dir toben, werden dich durch das Leben leiten, sondern die wohlbedachten Entscheidungen, welche die ganze Vielfalt deiner Bedürfnisse sowie der Traditionen mit einbeziehen und ihnen Rechnung tragen. So wie es ein Privileg der Jugend ist, in Liebe zu brennen, so ist es auch ihre Pflicht, den Entscheidungen der Erfahrenen Folge zu leisten.«
Bei diesen Worten musste sich Ruth innerlich schütteln. Aber es stand ihr nicht an, der älteren Frau zu widersprechen. Auch wusste sie nur zu gut, dass es hier nicht um richtig oder falsch ging, sondern um die Macht der Entscheidung. Und die lag nicht bei ihr. Darin glich sie, ob sie es wollte oder nicht, diesem Schandweib im Kerker des Henkers. Und dafür, dass diese Frau die Entscheidungen über ihr Leben an sich gerissen hatte, würde sie nun vielleicht mit dem Tod bezahlen müssen. So einen Preis zu zahlen war sie, Ruth Abelson, nicht bereit.
Montag, 20. Dezember 1701
59
I hr Anwalt saß bereits an dem kleinen Tisch in der Herrenstube, als Bunk in die Tür trat. Sie trug wieder das gebleichte Hanfhemd und hatte die Haare ordentlich zusammengebunden. Sogar Hände und Gesicht hatte sie waschen können. Der Henkersknecht schob sie zu einem freien Schemel.
»Jürgen, bring uns zwei kleine Krüge Bier. Es wird ein anstrengender Tag werden.«
Jürgen nickte dem Prokurator zu und verließ den Raum.
»Wie geht es dir an diesem wichtigen Morgen?«
»Ich bin mit mir im Reinen, Herr.«
»Du willst also nicht widerrufen?«
»Nein, Herr.«
»Dann musst du mit dem Schlimmsten rechnen. Der Prätor hat den Tod durch das Rad gefordert. Du wirst sterben, obwohl du nichts mit der kopflosen Frau zu tun hast. Das weißt du genauso gut wie ich. Warum nur, Bunk?«
Sie sah dem jungen Mann ins Gesicht. Er hatte ungefähr ihr Alter, und doch trennten sie Welten. Was wusste er schon von ihrem Leben, was von ihren Gefühlen? Wusste er überhaupt etwas von der Liebe? Doch schien er ihr nicht mehr ganz so grün wie noch vor einigen Wochen. Aber das mochte daran liegen, dasssie in den vielen Gesprächen mit ihm und auch im Gerichtssaal die Schärfe seines Verstandes kennengelernt hatte. Er war weder überheblich noch selbstgefällig. Eine seltene Gabe bei Menschen seines Standes. Er hatte wirklich versucht, sie zu verteidigen, so gut es ging. Er konnte schließlich nichts dafür, dass sie sich nicht verteidigen lassen wollte, dass sie das Gericht auf ihre Art nutzen wollte. Überhaupt schien er ein guter Mensch zu sein. Nie kam er mit leeren Händen zu ihr. Stets sorgte er dafür, dass sie etwas zu essen oder einen Krug Bier bekam. Auch jetzt kam Jürgen mit dem Bier und brachte zwei Schalen Grütze mit.
Wrangel erwiderte ihren Blick. Sie musste antworten. Sie war es diesem jungen, so um sie bemühten Mann schuldig.
»Ich bin ein einfacher Mensch, Prokurator. Ich habe weder vernünftig lesen noch schreiben gelernt, auch kein rechtes Handwerk, und vom Führen eines Haushaltes verstehe ich ebenfalls nicht viel. Aber doch habe ich meine Ehre, die ich mir von niemandem rauben lasse und die auch niemand ungestraft verletzen darf. Dafür habe ich schon viele Dinge im Leben ertragen, die Arbeit verloren, selbst das Dach über dem Kopf. Vielleicht werde ich heute dafür sogar mit meinem Leben bezahlen müssen. Aber das ist es mir wert.«
Wrangel sah Bunk tief in die Augen. »Aber deine Ehre ist doch schon ruiniert, Bunk. Jeder Tag, den du hier in der Frohnerei verbringst, tritt sie mit Füßen. Wofür willst du da noch dein Leben geben?«
»Was für ein Leben bleibt mir denn, Prokurator? Alles, was mir wichtig war, ist zerstört. Ich habe weder Familie noch Freunde. Ich habe kein Zuhause. Wenn man mich
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