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Schandweib

Schandweib

Titel: Schandweib Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Weiss
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Unheimlichkeiten ja erst. Vier Monate später in der Karwoche brannte des Nachts ein großes Holzkreuz auf der Rudolphus-Bastion . Niemand wusste, wie es dort hingekommen war, aber alle fürchteten, dass wieder die Juden oder gar Satan persönlich damit zu tun hatten. Wir verstärkten die Wachen, und es blieb einige Zeit ruhig. Doch dann,im vergangenen Januar, fand man eine Frauenleiche ohne Kopf auf dem Abort am Schweinemarkt, direkt an der Wallmauer. Den Kopf samt allem Blut der Frau hat Satan an sich genommen. So sagen es zumindest die Leute. Ich weiß ja nicht, ob das stimmt, aber dass schon wieder so ein Unglück hier am Fuß des Walles geschah, reicht mir schon.«
    Wrangel horchte auf. So gab es also durchaus Gründe, warum Wilken den Aspekt der Zauberei mit in seine Anklage gebracht hatte. Er musste die Leute zufriedenstellen, um ihnen die Angst zu nehmen, dass hier Unheimliches vor sich ging.
    Der Wachmann bemerkte Wrangels zunehmendes Interesse und fuhr eifrig fort. »Am Montag nach Palmsonntag dann waren sämtliche Türen der Bartholdus-Bastion mit Blut beschmiert. So wie die Juden es machten, im Alten Testament, bei Moses, als die Plagen die Ägypter heimsuchten. Vor zwei Monaten schließlich verschwand dann Jastrams Kopf direkt vor dem Millerntor, unweit der Casparius-Bastion . Von dort oben hatte man ihn jahrelang im Wind schaukeln sehen. Keiner hat etwas von dem Diebstahl bemerkt. Wie von Teufels Hand war der Kopf auf einmal weg. Ja, und dann, das Feuer vor einem Monat? Um ein Haar wäre die Vincent-Bastion in die Luft geflogen. Nur ein Wunder hat die Stadt vor dieser Katastrophe bewahrt.«
    Wrangel nickte zustimmend. »Das ist wirklich eine Kette von unglücklichen Ereignissen, die hier geschehen sind.«
    »Unglücklich? Verflucht sind sie. Dabei hat noch mein Vater mit eigenen Händen geholfen, die Wallanlagen zu bauen, damit sie uns als uneinnehmbarer Verteidigungsring mit ihren vielen Bastionen schützt. Doch statt ein schützender Ring zu sein, erscheint sie mir manchmal wie ein gigantischer Drudenfuß, der von Teufels Hand über unsere Stadt gezogen wurde und sie in ihr Unglück treibt. Ach, einer, was rede ich, sechs Drudenfüße,für jedes verfluchte Unglück einer. Zwar konnte noch niemand durch den Wallring brechen, aber in der Stadt wird das Leben immer toller. Rat und Bürgerschaft liegen sich in den Haaren, die fünf Kirchspiele gehen bissig aufeinander los, anstatt gemeinsam der Ehre des Herrn und dem Wohl der Menschen zu dienen. Ich sag Euch, mein Herr, wäre ich nicht schon so alt und hätte eine kranke Frau zu Hause, ich suchte mir eine andere Arbeit, als hier im Winterregen den verfluchten Wallring abzulaufen wie ein Uhrzeiger die Kirchturmuhr.«
    Wrangel zuckte zusammen. Das könnte es sein. Der Wall, die Bastionen, die Kirchturmuhr, der Zeiger. Sein Puls hämmerte in kräftigen Schlägen gegen seine Schläfen. Was hatte Abelson noch über Chiffrierungen gesagt? Man benutzte Scheiben, die man gegeneinander verschieben konnte. Und er, Wrangel, stand hier genau auf so einer Scheibe! Natürlich nicht auf einer kleinen, die man mit sich führen konnte. Nein, auf einer riesigen Scheibe, von der jeder wissen konnte, der um die Kunst der Verschlüsselung wusste. Für einen Ahnungslosen würde diese Anlage immer bloß eine Wallanlage sein. Nur der eingeweihte Kenner verstünde es, sie als Chiffrierscheibe für sich zu nutzen, egal, wo er sich gerade selbst befand. So konnten viele Menschen untereinander geheime Botschaften austauschen, ohne dass sie wegen des Schlüssels in direkten Kontakt treten mussten. Als Markierung reichte es notfalls sogar aus, wenn sie Neuigkeiten über die Ereignisse auf den Wallanlagen erführen. Und je spektakulärer die Ereignisse waren, desto weiter gelangten die Nachrichten über sie.
    »Wie viele Bastionen hat der Wall, Wachmann?«
    Der Alte schaute erstaunt in Wrangels plötzlich gerötetes Gesicht. »Zweiundzwanzig sind es, dazu sechs Tore. Alle sind gut bewaffnet und gesichert … Ist Euch nicht gut, Herr? Ihr seht plötzlich so erregt aus.«
    »Das ist nur das furchtbare Wetter, guter Mann. Ich sollte mich nicht länger hier draußen bei Nässe und Kälte aufhalten.«
    »Da sprecht Ihr die Wahrheit. Die klamme Kälte zieht in die Knochen und lässt sie nicht mehr los. Manchmal hat sie mich auf meinen Rundgängen so im Griff, dass ich nach Dienstschluss nicht einmal mehr sitzen kann. Geht nur zu, Herr, bis zum Grasbrooktor habt Ihr keine zweihundert Schritte

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