Scharfe Pranken
insgesamt ein sexistisches Schwein gewesen wäre, hätte Blayne darüber hinwegsehen und es schlicht seiner mangelhaften Erziehung zuschreiben können. Aber Blayne stellte schon sehr bald fest, dass Novikov sehr großen Respekt vor weiblichen Athleten hatte … solange sie richtige Athleten waren und nicht nur »heiße Mädels in niedlichen Outfits, die sich gegenseitig verprügeln. Alles, was ihr Mädels braucht, ist ein bisschen heißes Öl oder Schlamm, und ihr hättet eine richtige Goldgrube«.
Aber obwohl er ihren Sport nicht als richtigen Sport betrachtete, nahm er sie so hart ran, als trainiere sie für die nächste Olympiade.
Nach dreißig Minuten wollte sie sich nur noch auf den Boden legen und keuchen. Sie bezweifelte jedoch, dass ihr der Hybride das hätte durchgehen lassen.
Blayne schoss über die Bahn und wurde einmal mehr auf eine Art und Weise ausgebremst, die sie als äußerst lästig empfand: Novikov packte sie mit seiner großen Hand am Kopf und hielt sie einfach fest.
Er schob sie mit einem kräftigen Schubs zurück, und Blayne gab sich alle Mühe, bei diesem Tempo nicht auf ihrem Hintern zu landen. Wenn sie jemand so schubste, war er normalerweise stinksauer auf sie. Novikov jedoch nicht.
»Ich will mal was testen«, sagte er, den Kaffeebecher noch immer in der Hand. Die Zimtschnecken hatte er in weniger als fünf Minuten verputzt, während Blayne sich aufgewärmt hatte. »Komm so schnell du kannst auf mich zu.«
»Bist du sicher?«, fragte sie und sah zu ihm hinüber. Er hatte seine Schutzkleidung abgelegt, eine Jogginghose und ein T -Shirt angezogen und es trotzdem irgendwie geschafft, um Punkt sieben auf der Bahn zu stehen. »Ich will dir nicht wehtun«, sagte sie aufrichtig.
Als sie das Gelächter hörte, das darauf folgte, beschloss sie, dass sie ihm doch wehtun wollte. Sie wollte ihm sogar sehr wehtun. Als Novikov sah, dass sie nicht mit ihm lachte – oder, besser gesagt: dass sie nicht über sich selbst lachte, da er sie offensichtlich auslachte – blinzelte er und sagte: »Oh. Du machst gar keine Witze.«
»Nein. Ich mache keine Witze.«
»Oh. Oh! Ähm … Mir passiert schon nichts. Gib einfach alles, was du hast.«
Blayne betrachtete den Hünen, der vor ihr stand, von oben bis unten. Sie beschloss, noch ein paar Meter zurückzurollen, um mehr Schwung zu bekommen, ging dann in Position und musterte ihn erneut eingehend. Diese Kunst hatte ihr Vater ihr beigebracht: die Kunst, die Schwachstelle zu finden, egal, ob es die Schwachstelle eines Menschen, eines Gebäudes oder von etwas anderem war. Natürlich machte sich Blayne diese Fähigkeit oft zunutze, um Gutes zu tun: Sie fand die Schwachstelle eines Menschen und half ihm dann dabei, diese zu überwinden. Ihr Vater hingegen benutzte sie, um zu zerstören.
Blayne beugte ihren Oberkörper nach vorne, holte tief Luft, ballte die Fäuste und startete. In der Kurve verlor sie ein wenig Geschwindigkeit, wurde jedoch wieder schneller, als sie nach innen fuhr. Als sie sich Novikov näherte, schätzte sie ihn ein letztes Mal ab: Er stand ganz lässig da, nippte an seinem Kaffee und sah zu, wie sie über die Bahn rollte. Auf der Grundlage ihres letzten analytischen Blicks korrigierte sie ihre Richtung ein wenig und rauschte mit allem, was sie hatte, in ihn hinein.
Und ja, sie knockte sich selbst dabei komplett aus, aber das war die Sache absolut wert, als der Hüne mit ihr zu Boden ging.
Bo war schon des Öfteren von knapp zweihundert Kilo schweren Jungs umgerannt worden, seit er in der Highschool zu spielen begonnen hatte. Ein paar Typen hatten ihn ernsthaft tot sehen wollen und waren mit der Wucht einer wild gewordenen Rinderherde in ihn hineingerauscht. Einigen von ihnen war es sogar gelungen, ihn umzuwerfen, und nur ganz wenige hatten es geschafft, dass er Sternchen sah. Aber niemandem, wirklich absolut niemandem , war es gelungen, ihn auf dem falschen Fuß zu erwischen.
Sie war auf ihn zugerollt, und während er an seinem Kaffee genippt hatte und im Kopf noch einmal seinen heutigen Zeitplan einschließlich dieser Stunde durchgegangen war, in der er nicht selbst trainierte, hatte sie plötzlich die Richtung geändert, ihn auf seiner schwächeren rechten Seite erwischt – und ihn auf seinen Allerwertesten befördert.
Der Rest seines Kaffees spritzte über die Bahn, und als sein Kopf hart auf dem Boden aufschlug, erinnerte Bo sich mit einem Mal wieder daran, wie es war, die Welt aus dieser Position zu betrachten.
Es dauerte
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