Scharfe Pranken
solltest du es dann tun?«
Wie hätte er ihr irgendetwas abschlagen können? Besonders, wenn sie so verdammt süß war?
»Na schön. Aber die Teigtaschen gehören mir. Die teile ich nicht.«
»Unhöflich und knauserig«, sagte sie und zerrte an seinem Arm, bis Bo sich in Bewegung setzte und zuließ, dass sie ihn nach drinnen führte. »Aber diesmal lasse ich es dir durchgehen.«
»Das ist sehr großherzig von dir«, erwiderte er trocken und brachte Blayne damit zum Lachen.
Sie hatten den Esstisch kaum zwei Minuten als Esstisch benutzt, als Blayne es nicht mehr aushielt. Sie fühlte sich eingeengt und baute blitzschnell ein spontanes Picknick auf dem Wohnzimmerboden auf. Bo beschwerte sich nicht, wirkte jedoch völlig verblüfft.
»Ich mag keine Einschränkungen«, erklärte sie. Falls er verstand, was sie meinte, ließ er es nicht erkennen. Er starrte Blayne nur an, schnappte sich die Wonton-Suppe und trug sie zu der Decke hinüber, die sie ausgebreitet hatte.
Wenn sie ehrlich war, hatte sie keine Ahnung, wie ein Essen mit Bo Novikov verlaufen würde. Es war eine Sache, Zeit mit ihm zu verbringen, wenn sie zusammen trainierten. Dabei bestanden ihre Unterhaltungen größtenteils daraus, dass er ihr sagte, was sie zu tun hatte. Bei Unterhaltungen während des Abendessens war jedoch ein Hin und Her vonnöten, das Blayne sehr mochte und das oft darüber entschied, wer in den Kreis ihrer Freunde aufgenommen wurde und wen sie nur traf, wenn sie ihm zufällig auf der Straße begegnete. Bis jetzt war Blayne sich ziemlich sicher gewesen, dass Bo in die »Bin ihm zufällig auf der Straße begegnet«-Kategorie fallen würde. Er unternahm kaum etwas, das nichts mit Eishockey zu tun hatte – worüber sollten sie sich also unterhalten? Aus diesem Grund schien ihr ihr Wohnzimmer der perfekte Ort für ein Abendessen zu sein, da sich ihre Fernbedienung und ihr 27-Zoll-Plasmafernseher für den Notfall direkt in Reichweite befanden, falls die Stille unerträglich wurde.
Zwei Stunden später hatte sie noch nicht ein einziges Mal nach der Fernbedienung gegriffen.
»Das hier«, sagte sie und reichte ihm das Foto, »ist meine Mom.«
Bo lächelte, und sein Lächeln wirkte aufrichtig. »Deine Mom sieht mit dem Afro echt rockstarmäßig aus.«
Blayne machte mit beiden Händen das Rock-and-Roll-Zeichen, das die Nonnen als Teufelshörner bezeichneten: Sie streckte ihre kleinen Finger und Zeigefinger und hielt die Mittel- und Ringfinger mit ihrem Daumen fest. »Verdammt richtig. Sie hat ihn immer ihre Hundemähne genannt, was sämtliche Löwen in einer Hörweite von fünfzehn Kilometern wahnsinnig genervt hat.«
»Wieso trägst du denn keinen Afro?«
»Weil meine Haare abstehen wie bei Pippi Langstrumpf, und der Look steht mir überhaupt nicht.« Sie gestikulierte aufgeregt. »Okay, du bist dran. Hast du ein Foto von deinen Eltern?«
»Klar.« Bo verdrehte die Augen. Perfekt organisiert, wie er nun mal war, griff er nach seiner Brieftasche, holte ein kleines Foto heraus und reichte es ihr.
Die Asiatin war eine eher untypische Löwin. Sie schaute mit ihren goldenen Augen direkt in die Kamera, und das leise Lächeln auf ihren Lippen wirkte gleichzeitig spöttisch und gefährlich. Ihre scharfen Wangenknochen und ihre breite, relativ flache Nase erinnerten an die ihres Sohnes. Der Mann, der hinter ihr stand, war jedoch mutig genug, sich an sie zu schmiegen: ein weißhaariger Eisbär mit leuchtend braunen Augen und bezauberndem Lächeln. Bos Erbgut war eindeutig eine Fünfzig-fünfzig-Mischung seiner Eltern, aber offensichtlich zog er die Bärenseite vor. Nicht dass Blayne ihm das übel genommen hätte. Immerhin hatten ihn die Bären ja bei sich aufgenommen und ihn großgezogen.
»Sie sehen glücklich aus.«
»Das waren sie auch meistens. Sie haben oft gestritten, aber ich glaube, sie haben sich auch sehr gerne gestritten.«
»Bei manchen Paaren funktioniert das echt gut.« Dann stellte sie die Frage, über die sie schon eine Weile nachgedacht hatte: »Was ist passiert?«
Bo zuckte mit seinen mächtigen Schultern. »Ein betrunkener Fahrer hat auf dem Freeway einen Massenunfall verursacht. Wir waren unter den ersten paar Autos. Dad konnte nicht mehr rechtzeitig auf die Bremse treten, und die Fahrer hinter uns auch nicht.«
»Du warst dabei?«
Er nickte. »Auf dem Rücksitz. Alles, woran ich mich erinnern kann, ist das Geräusch von quietschenden Bremsen, und dann Metall auf Metall – dann bin ich im Krankenhaus wieder
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