Schatten des Wahns: Stachelmanns dritter Fall (German Edition)
einmal über den Tisch, langsam, vorsichtig, und sie schien einem Gedanken zu folgen.
Stachelmann drängte es, wieder ihre Hand zu nehmen. Doch er unterließ es.
»Er lebte in seiner Erinnerung. Sie quälte ihn und sie half ihm, auch wenn das jetzt komisch klingt.«
»Nein«, sagte Anne. »Das kann ich verstehen. Vielleicht weil Ossi früher mal was war und ihm das Selbstbewusstsein gab, aber wenn er schlecht drauf war, dann zeigte ihm die Erinnerung seinen Abstieg.« Sie setzte an, ihre Hand auf den Mund zu legen. »Er empfand es dann so, glaube ich. Dabei ist es doch kein Abstieg, wenn man Kriminalkommissar wird.«
»Wenn er daran gearbeitet hätte, wäre er längst Hauptkommissar geworden.« Carmen zog ein Taschentuch aus der Jeans und trocknete sich die Augen.
Stachelmann dachte an die Akten, auf denen Ossis Kopf gelegen hatte.
»Wollen Sie ihn noch einmal sehen?«, fragte Carmen.
Stachelmann überlegte, er stellte sich den Leichnam vor in der Rechtsmedizin, weiß, schlaff. »Nein, aber ich möchte gern in die Wohnung.«
Carmen überlegte. »Die ist versiegelt. Aber ich werde Taut fragen, der kennt Sie und macht vielleicht eine Ausnahme. Womöglich finden Sie etwas oder können was erklären. Ich fahre jetzt ins Präsidium und ruf Sie dann an.«
Stachelmann nannte ihr seine Nummer am Historischen Seminar. Carmen schrieb sich die Nummer auf, steckte ihren Notizblock in die Anoraktasche, dann verharrte sie einige Augenblicke. Sie stand auf, fasste an die Tischkante, als wollte sie sich festhalten, dann drehte sie sich weg. Sie murmelte etwas und verließ die Küche, Stachelmann hörte die Wohnungstür klacken.
Sie saßen schweigend zusammen. Stachelmann schaute sich um, als säße er zum ersten Mal in Annes Küche. Anne trommelte lautlos mit den Fingern auf die Tischplatte. Stachelmann blickte zur Uhr an der Wand. Es war kurz nach sechs, draußen dämmerte der Morgen mit Streulicht.
»Hast du ihn gemocht?«
»Weiß nicht«, sagte Stachelmann.
»Das musst du doch wissen.«
»Na, ich habe ihn monatelang nicht treffen wollen.« Womöglich hätte ich es verhindern können, dachte er. Wenn er sich umgebracht hat, dann vielleicht weil er einsam war. Nein, das war er doch nicht. Er hatte was mit Carmen. Aber man kann etwas mit jemandem haben und trotzdem einsam sein. Er hat dich beneidet, obwohl es da nichts zu beneiden gab. Du hättest es ihm ausreden können. Manchmal reicht eine Kleinigkeit, um einem den Rest zu geben. Vielleicht war der Neid so eine Kleinigkeit. Er erinnerte sich, wie sie damals in dieser Kneipe, dem Tokaja, gesessen und über den Holler-Fall gesprochen hatten, über einen Serienmörder, der eine ganze Familie töten wollte, einen nach dem anderen, quasi im Jahrestakt. Im Tokaja hatte er dann auch mit Ines etwas angefangen, was er besser nie angefangen hätte. Er würde nie wieder in diese Gaststätte gehen. Immer wenn er dort war, wurde er in ein Verbrechen verwickelt. Damals, als er mit Ossi im Tokaja gewesen war, da hätte er merken können, wie neidisch Ossi war auf ihn. Er hätte energischer widersprechen müssen. »Er hat sich nicht zum Besseren entwickelt. Man soll ja nichts Schlechtes sagen über Tote, aber früher war er ein Kerl, hier in Hamburg, fast dreißig Jahre später, kam er mir manchmal vor wie ein Aufschneider, wie einer, der sich selbst belügt.«
»Er verbarg etwas Dunkles in sich. Ossi war nett, aber ein bisschen aufdringlich, gerade gegenüber Frauen. Er hat getrunken, na gut, da kenn ich noch ein paar andere, die deshalb nicht zu Bösewichten werden. Doch war da etwas, das mich abgestoßen hat. Etwas Klebriges. Vielleicht spinne ich ja.« Anne schaute Stachelmann in die Augen.
Der wich dem Blick aus. »Ossi war wichtig für mich, damals, als wir gemeinsam studiert haben. Mir kam das immer vor, als wären es viele Semester gewesen. Ich hab vorhin nachgezählt, es waren nur drei. Er war älter als ich, hat mich hin und wieder beschützt. Das rechne ich ihm hoch an, auch wenn er es weniger für mich getan hat als für sein Ego. Aber wenn man ein Vierteljahrhundert später immer noch an alten Geschichten hängt ...«
»Du bist ungerecht, das hat euch verbunden, und deswegen hat er mit den alten Geschichten angefangen. Alles andere wäre doch abwegig gewesen. Rate mal, worüber wir beim letzten Klassentreffen gesprochen haben.«
»Er hat in den alten Geschichten gelebt. Was für ein kleines Leben, ein paar Jahre, und seitdem ist alles Abstieg.«
Sie schwiegen.
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