Schatten eines Gottes (German Edition)
aufschreibt. Mit einer Feder und Tinte. Damit schreibt man Zeichen auf Papier oder Pergament. Geheime Zeichen, die nur der kennt, der sie lesen kann. Man nennt sie Buchstaben. Mehrere Buchstaben ergeben ein Wort. Viele Wörter ergeben eine Geschichte, ist das klar?«
»Solche Geschichten, die uns die Brüder im Gottesdienst in der Kapelle erzählen?«
»Genau die. Die stehen nämlich alle in dem Buch. Vor langer Zeit hat Gott ganz frommen Menschen gesagt, was sie aufschreiben sollen. Wenn sie es nicht getan hätten, dann wüsste heute keiner mehr, was Gott damals gesagt hat, verstehst du?«
Hubert glaubte zu verstehen und nickte. »Kannst du die Buchstaben lesen?«
Hannes lachte kurz über so viel Unverstand. »Ich doch nicht. Das können nur die Mönche und andere sehr kluge Männer. Es sind geheime Zeichen, und sie sind auch in einer anderen Sprache geschrieben, die man Latein nennt.«
»Gibt es denn Menschen, die anders sprechen als wir?«
»Na klar.«
»Die könnten wir dann nicht verstehen?«
»Nö.«
»Die Mönche sprechen aber wie wir. Kein Latein.«
»Doch. Manchmal, wenn sie beten oder singen. Das versteht der liebe Gott dann besser. Ist doch klar, dass er auf Mönche und Heilige und so mehr hört als auf uns, das kommt, weil wir eben nicht Latein sprechen. Und wir dürfen es auch nicht, weil es eine heilige Sprache ist.«
»Was stehst du da herum? Komm herein und mach die Tür zu.«
Hubert zuckte zusammen. »Ja, ehrwürdiger Bruder Prior«, murmelte er.
»Und schiebe den Riegel vor.«
»Ja, ehrwürdiger Bruder Prior.«
»Gut. Nun setz dich dahin.«
Der Prior schob mit seinem rechten Fuß einen gepolsterten Schemel nach vorn, auf dem seine Füße bisher geruht hatten. Ein Grinsen nistete in seinem faltigen Gesicht. »Mir zu Füßen, kleiner Hubert.«
»Ja, ehrwürdiger Bruder Prior.«
Hubert setzte sich, wobei er unwillkürlich den Schemel noch ein bisschen von dem Alten wegrückte. Die ganze Sache erschien ihm nicht geheuer.
»Du darfst mich mit Bruder Prior anreden, Junge.«
»Ja, ehr… – Bruder Prior.«
Verlegen ließ Hubert seine Blicke im Raum umherschweifen. Dabei blieben sie immer wieder an dem dicken Buch hängen. Daneben stand ein kleines, grün lackiertes Kästchen, in das er nicht hineinsehen konnte.
»Du fragst dich, weshalb ich dich rufen ließ?«
Hubert nickte.
»Nun, ich sehe, deine Augen wandern immer wieder zu dem Kästchen.«
Die schmalen Greisenlippen verzogen sich zu einem Lächeln. Wenn es Güte und Verständnis ausdrücken sollte, war es misslungen.
»Nein, ich …«
schaue das Buch an
, wollte Hubert sagen, aber der Prior fiel ihm ins Wort: »Greif ruhig zu. Kleine Jungen mögen süße Sachen schlecken, nicht wahr?«
Hubert reckte den Hals. Er konnte nicht sehen, was sich in der Kiste befand, aber er wusste auch nicht, ob er aufstehen durfte.
Der Prior räusperte sich. Offensichtlich war er ungehalten, dass sein großzügiges Angebot nicht sofort wahrgenommen wurde. »Nimm schon!«
Hubert erhob sich, griff in die Kiste und zog mit zwei Fingern eine klebrige Scheibe heraus. Rasch und ohne den Prior anzusehen, setzte er sich wieder und biss hinein. So etwas Köstliches hatte er noch nie gegessen. Gleich biss er noch einmal ab.
Der Prior beugte sich ein wenig zu Hubert hinunter. »Das ist Latwerge. Kennst du das? Nein, sicher nicht. Dick eingekochter Zucker mit Zwetschgen und Nüssen, getrocknet und in Scheiben geschnitten. Ich habe diese Leckerei als Junge gern genascht. Ich bekam sie, wenn ich artig war. Natürlich. Nur dann. Kleine Jungen müssen gehorchen. Dann werden sie belohnt. Nimm dir ruhig noch ein Stück.«
Hubert konnte sich kaum vorstellen, dass der alte Mann vor ihm auch mal ein Junge gewesen war. Noch ein Stück? Das hätte er gern genommen, aber er wollte nicht gierig erscheinen. Verlegen wischte er sich die klebrigen Finger am Kittel ab. »Nein, danke. Man hat mir gesagt, ich darf nicht unbescheiden sein.«
»Löblich, sehr löblich.«
Der Prior ließ sich zurück in seinen Sessel sinken. »Ich lasse hin und wieder einen von euch Buben zu mir kommen, um mich mit ihm zu unterhalten, schließlich bin ich für euch verantwortlich.«
Das ist gelogen!,
schoss es Hubert durch den Kopf.
Seit ich hier bin, ist noch keiner aus der Gruppe jemals zu ihm gerufen worden. Außer Karlmann. Aber der hat wichtige Dinge mit ihm zu besprechen, weil er uns beaufsichtigt. Warum lügt der Prior? Er ist doch ein Gottesmann?
»Du bist nun schon sieben
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