Schatten eines Gottes (German Edition)
olivfarbene Haut behielt auch im Winter ihren dunklen Ton. Seinem Gesicht haftete nichts Grobes an, es war fein geschnitten, und seine mandelförmigen Augen waren schwarz wie Kohle. Fürwahr! Hubert war ein außergewöhnlich hübscher Bengel. Karlmann hatte schließlich Augen im Kopf. Und deshalb hatte er auch gewusst, dass der Tag kommen und dass es Hubert sein würde, aber er hatte es verdrängt, nicht daran denken wollen. Und nun war es soweit.
»Hubert!«
Hubert war gerade dabei, heruntergefallene Äpfel in einen Korb zu sammeln. Er hob den Kopf, ohne seine Tätigkeit zu unterbrechen. »Ja?«
Er wunderte sich, denn sonst sprach ihn Karlmann vertraulich mit ›Huberl‹ an.
»Du sollst zum Bruder Prior kommen.«
Hubert blieb der Mund offen stehen. Der Prior wollte ihn sprechen? Das konnte nur ein Irrtum sein. »Was will er denn von mir?«, stotterte er. In seiner Verwirrtheit hatte er weder auf Karlmanns mürrischen Ton geachtet noch dessen finsteren Blick bemerkt.
»Wirst du schon merken. Frag nicht lange.«
Hubert stellte den Korb ab. »Ist das auch kein Scherz, Karlmann?«
Was für ein Engelsgesicht! So rein, so arglos und doch sein ärgster Rivale. Nie wieder würde für Karlmann das Leben so angenehm sein, weil es diesen Hubert gab. Und bald würde dieser Engel – nun ja. Karlmann unterdrückte auflodernden Zorn auf den Knaben, auf den Prior, auf das ganze Kloster. Es war nun einmal nicht zu ändern. »Ein Scherz?«, blaffte er ihn an. »Du willst wohl die Weidenrute tanzen sehen? Los! Beeil dich!«
Hubert starrte auf seine schmutzigen Finger. Er hoffte innig, dass Karlmann ihn nicht hereinlegen wollte.
»Was stehst du noch da herum? Und vergiss nicht, ihn mit ehrwürdiger Bruder Prior anzureden!«
Hubert nickte. Während er sich die schmutzigen Hände in der Regentonne wusch, war er darauf gefasst, von Karlmann ausgelacht zu werden. Doch als er sich umdrehte, war dieser verschwunden.
Klopfenden Herzens schlich sich Hubert in den Zellentrakt der Mönche, den zu betreten ihm ohne Erlaubnis verboten war. Er fragte sich, was der Prior von einem kleinen Jungen wie ihm wollte. Nach dem Abt hatte er das meiste zu sagen.
Am Ende eines Flures mit gewölbter Decke befand sich die Zelle des Priors Adalbert. Hubert hatte ihn nur wenige Male von Weitem gesehen. Niemals, soweit er sich erinnern konnte, hatte er mit den Jungen ein persönliches Wort gewechselt. Obwohl ihm die Knie zitterten, klopfte Hubert zaghaft und wartete.
»Herein im Namen des Herrn!«, rief eine heisere Stimme.
Hubert öffnete die Tür einen Spalt und schob zaghaft den Kopf hindurch, bereit, so schnell wie möglich wegzulaufen, wenn sich das Ganze als ein Irrtum herausstellte.
In einem abgeschabten Ledersessel hockte ein krummes Männchen, dessen magere Gestalt in die Falten eines viel zu weiten, cremefarbenen Habits eingehüllt war. Ein dünner Haarkranz umrahmte einen kahlen, rosigen Schädel, und graue Bartfäden umgaben sein Kinn wie Spinnweben. Seine Augen jedoch waren außergewöhnlich hell und funkelten unter den buschigen Brauen wie kleine Lichtpunkte.
Aus dem rechten Ärmel schob sich eine runzelige Hand mit Altersflecken und krümmte sich winkend. »Komm näher, komm schon. Ich beiße nicht.«
Es war also kein Irrtum. Hubert durchzuckte eine winzige Flamme der Hoffnung. Vielleicht konnte er dem Prior bei dieser Gelegenheit seinen glühendsten Wunsch vortragen. Hubert glitt in das Zimmer und schloss leise die Tür. Der Geruch verbrannten Weihrauchs legte sich ihm erstickend auf die Brust. Sein erster Blick fiel auf das große, kahle Holzkreuz an der Wand hinter dem Prior. Unter dem schmalen Fenster gab es einen vom Alter dunkelbraun gebeizten Tisch, auf dem sich neben einem dreiarmigen Kerzenleuchter etliche Utensilien befanden, die Hubert unbekannt waren. Und dann sah er es. Das geheimnisvolle Ding! Es lag aufgeschlagen mitten auf dem Tisch.
In seinen ersten Jahren in Altenberg hatte Hubert im Garten Mönche dabei beobachtet, wie sie es auf dem Schoß hielten und hineinstarrten. Hannes, ein bedächtiger Junge, damals elf Jahre alt, hatte ihm erklärt, was es damit auf sich hatte. »Man nennt es Buch, und die Mönche lesen darin. In dem Buch stehen viele Geschichten, die handeln von Gott, Jesus, Maria und den Engeln. Vor langer Zeit haben Menschen das aufgeschrieben.«
»Aufgeschrieben?«
»Ja.«
Hannes verdrehte die Augen und suchte nach den richtigen Worten. »Man kann Geschichten aufbewahren, indem man sie
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