Schatten eines Gottes (German Edition)
Jahre bei uns, Hubert«, fuhr der Prior mit milder Stimme fort. »Wie gefällt es dir hier? Ist die Arbeit nicht zu schwer? Wie kommst du mit den anderen aus? Erzähle!«
»Ich bin – sehr gern hier«, stotterte Hubert. »Ja, wirklich. Die Arbeit ist leicht, und alle sind freundlich. Hier ist es …« Er verstummte und sah zu Boden. ›… w
ie zu Hause bei richtigen Eltern‹
, hatte er sagen wollen, denn was Eltern sind, das hatten ihm die anderen erzählt.
Der Prior nickte. »Es geht dir sogar noch besser als in einer Familie, nicht wahr? Als in deiner früheren Familie, meine ich. Da wollte man dich nicht mehr haben, hat dich einfach im Wald ausgesetzt, doch bei uns bist du willkommen.«
Hubert errötete, hielt den Kopf gesenkt und schwieg.
»Ich habe gehört, du bist ein guter Junge, Hubert. Deshalb darfst du dir etwas wünschen. Was hättest du denn gern?«
Der Kloß in Huberts Hals löste sich. Ein Wunsch. Also doch! Aber durfte er es wagen, ihn auszusprechen? Er nahm allen Mut zusammen und sagte: »Ich möchte gern lesen lernen.«
Die Stille, die auf diesen Satz folgte, behagte Hubert nicht. Er wagte aber auch nicht, dem Prior ins Gesicht zu sehen. Mit gesenktem Kopf und klopfendem Herzen wartete er. Ein meckerndes Gelächter ließ ihn zusammenzucken. »Lesen lernen? Wer hat dir denn diesen Unsinn in den Kopf gesetzt, Bürschchen? Ein Bauernjunge kann nicht lesen lernen, weil sein Kopf …« Der Prior klopfte an seinen eigenen: »Weil der von Natur aus dumm ist. Deshalb kümmern sich die Bauern um das einfältige Vieh und tun die niedrigen Arbeiten. Das hat der liebe Gott so eingerichtet, weißt du? Denn irgendjemand muss diese Arbeiten tun. Andere Menschen hat er klug gemacht, damit sie das Land regieren oder die heiligen Schriften studieren. Das sind die Mönche. Sie bringen den Bauern den richtigen Glauben bei, sonst wären sie ja gottlos. Hast du das verstanden?«
Hubert erschrak. War das wirklich so? War er zu dumm dazu? Er schielte auf das dicke, aufgeschlagene Buch mit den geheimen Zeichen, den Buchstaben, die von Gott erzählten. War sein Wunsch vermessen? Durfte ein Bauer sich mit diesen Geheimnissen überhaupt befassen? Nein. Nur die Priester und die Mönche durften direkt mit Gott sprechen und seine aufgeschriebenen Gedanken lesen. Wenn jeder Bauer mit dem himmlischen Vater schwätzen könnte wie mit seinem Nachbarn, dann brauchte es schließlich keine Priester und Mönche zu geben. Und wenn die Bauern sich selbst regieren könnten, keinen Kaiser. Wo hätte es das wohl schon gegeben? Ein Bauer, der mit seiner Kuh Latein sprach. Hubert musste fast lachen.
»Sind die Wörter da drin lateinisch?«, rutschte es ihm heraus, und er zeigte auf das Buch.
»Wer sagt dir so was?«
»Der Hannes. Er sagt, Gott spricht lateinisch.«
»Nun, hm, das tut er. Es ist eine heilige Sprache und wird nur von heiligen Männern verstanden. Und was sind die Bauern? Nun, Hubert, was sind sie?«
Hubert wusste nicht, was der Prior hören wollte, und schwieg.
»Sind sie etwa heilig?«, fuhr der Prior fort. »Oder sind sie nicht schmutzig, stinken, betrinken sich, sagen unflätige Dinge und schlagen ihre Weiber? Sag, habe ich nicht recht?«
Hubert zuckte mit den Achseln. Er wusste es nicht, hatte nur von ihnen gehört.
»Antworte mir!«
»Heilig sind sie wohl nicht, nein.«
»Und du willst lesen lernen? Und gar Latein? Dein kleiner, leerer Kopf würde Gottes Weisheit einfach nicht ertragen, und eines Tages würde er einfach auseinanderplatzen.«
»Oh nein!«, rief Hubert und hielt sich erschrocken die Hände an den Kopf.
»Gut. Jetzt, wo du es begriffen hast, wirst du dir etwas anderes wünschen. Vielleicht ein Paar Sandalen? Oder einen neuen Kittel? Deiner ist schon ziemlich schmutzig. Sag es nur. Einer wie du hat einfache Bedürfnisse, die sich leicht erfüllen lassen, und ich mag dich, kleiner Hubert. Also, sprich!«
Huberts bloße Füße scharrten auf dem abgetretenen Teppich. Er wusste nicht, was er tun sollte. Ganz tief im Innern wusste er, dass es grob und gemein war, was der Prior sagte, aber er konnte es nicht benennen. Er wusste, dass er immer noch lesen lernen wollte, und er fürchtete, wenn er neue Sandalen bekam, dann war dieser Wunsch für immer dahin.
»Ich brauche nichts«, murmelte er. Er wollte jetzt nur noch gehen, bevor der Prior ihn für undankbar hielt.
»Unsinn! Ein kleiner Junge braucht immer etwas. So ein hübscher, kleiner Junge, möchte ich hinzufügen.«
Der Prior beugte
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