Schatten im Park
„Wir sind gar nicht reingegangen, ehrlich. Benji hat nur …“
„Was Benji getan hat, interessiert mich nicht. Außerdem bin ich gar nicht glücklich, dass du mit ihm herumhängst. Benji hat’s nicht leicht. Er ist ziemlich wild aufgewachsen, und sein Stiefvater, na ja. Der scheint mir nicht der geborene Erzieher zu sein.“
Micha schaute hilfesuchend zu seinem Vater. Der zwinkerte ihm zu.
Der Ton seiner Mutter wurde schärfer: „Pass auf, wenn ich dir etwas zu sagen habe! Das Gerede von Geistern ist Unsinn. Aber gefährlich ist die Bruchbude trotzdem. Sie steht kurz vorm Auseinanderfallen, da braucht nur jemand von euch drinnen herumklettern. Wenn euch die Hütte auf den Kopf fällt, dann gute Nacht!“
Herr Pachern legte seiner Frau beruhigend eine Hand auf die Schulter. „Warum die von der Gemeinde den komischen Tempel nicht abgerissen haben, verstehe ich nicht. Früher haben sie dort ihre Freiluftkonzerte veranstaltet. Das ist aber schon lang vorbei. Jetzt machen dort höchstens die Katzen Musik, in der Ranzzeit. Kein Wunder, dass sich das Wort ‚Lusthaus‘ so lange hält.“
Seine Frau schüttelte energisch den Kopf. „Ich finde das gar nicht witzig.“
Micha lag im Bett. Es war 11 Uhr, und er konnte nicht einschlafen. Er musste an die Sage von Burg Greifenstein denken: Dort hatten zwei Burschen ein riesiges Knochengerüst aufgestöbert und verspottet. In der Nacht hatte das Gespenst sie dann heimgesucht. Micha wollte gar nicht zum Fenster hinschauen. Was wäre, wenn plötzlich ein Totenschädel auftauchte und hereingrinste? Der Kopf des armen Kerls, der im Lusthaus gestorben war: „Ihr habt meine Ruhe gestört, jetzt müsst ihr dafür büßen!“
Maaru, das Polargespenst
Am nächsten Morgen waren Wiesen und Bäume von Reif überzogen. Issi sah aus dem Fenster. „Die Eisfee ist heute Nacht vorbeigekommen und hat die Landschaft geküsst“, dachte sie lächelnd – so hatten ihr die Eltern früher den ersten Reif erklärt. Dieser Anblick verzauberte Issi noch immer. Sie stellte sich vor den Spiegel. So ähnlich könnte die Eisfee aussehen: lange blonde Haare und ein blasses Gesicht. Issi hielt den Kopf schräg und betrachtete sich kritisch. Was sie störte, war ihre lange Nase. Sie schnitt eine Grimasse und schüttelte den Kopf, dass ihr die Haare übers Gesicht hingen. Ja, das sah gut aus. Die Eisfee im Sturmwind.
Plötzlich stand ihr Vater in der Zimmertür. „Komm, komm, trödle nicht. Du bist ja noch im Pyjama!“ Issi drehte sich maulend vom Spiegel weg. Zu Hause hatte man nie Zeit für sich. Sie schlurfte die Stiegen hinunter in die Küche. Ihr Vater hatte schon Teetassen und Frühstücksgebäck auf den Tisch gestellt und fragte zwischen zwei Blicken in die Zeitung: „Alles eingepackt? Auch nichts vergessen?“
„Mhm.“ Issi musste innerlich grinsen. Ihr Vater war viel auf Reisen, und wenn er einmal zu Hause war, ging alles schneller. Er lachte. „Na, du bist ja heute früh wieder gut aufgelegt! Frisieren musst du dich noch.“
„Ja.“
„Und vergiss das Zähneputzen nicht!“
„Tu ich noch, Papa.“ Issi kam gut mit ihrem Vater aus, zu dieser Uhrzeit konnte er aber ganz schön lästig sein. Schade, dass Mama noch nicht auf war, zwei Morgenmuffel hätten gegen den Vater eine Chance gehabt. Issi fühlte sich erst wieder frei, als sie das Haus verlassen hatte. Ihr Schulweg war kurz. Sie freute sich immer auf eines: wenn sie am Ende der Märzstraße Micha traf. Manchmal versäumten sie sich. Manchmal wartete er auch auf sie.
Der schlaksige, dunkelhaarige Micha gefiel ihr. Er war nicht so ein Angeber wie Benji, der kleine Teufel. Er war auch nicht so langsam und schwerfällig wie Moritz. Nichts gegen die beiden, sie mochte den frechen Benji und den dicken Moritz. Aber Micha war etwas Besonderes. Er redete nicht viel, wenn sie zu viert unterwegs waren. Wenn er sie aber allein traf, hatte er immer eine tolle Geschichte auf Lager. Vor ein paar Tagen hatte er ihr von Maaru, dem Polargespenst, erzählt. „Manchmal kann das Leben der Polarforscher auch sehr langweilig sein. Wenn der Schneesturm um dein Zelt heult, kannst du nichts tun, als ums Feuer zu sitzen und dich warm zu halten. Das ist die beste Zeit für Sagen und Legenden. Die Inuit kennen viele unheimliche Geschichten. Eine gefällt mir besonders gut. Wenn in der Arktis der Polarsturm über die schneebedeckte Landschaft braust, wenn die Menschen in ihren Zelten und Iglus zittern, dann rührt sich weit draußen auf dem Eis
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