Schatten über den Weiden: Roman (German Edition)
trösten,
doch dann besann er sich. Manchmal war es besser, einfach nur zuzuhören.
»Ich glaube«, fuhr Kelsey fort, »ich glaube wirklich, daß sie versucht hat, mich zu lieben. Aber ihre Gefühle für meine Mutter und vielleicht die Schuld, die sie auf sich geladen hat, machten es ihr unmöglich. Ich sollte dem guten Namen der Familie Ehre machen, mußte die besten Schulen besuchen, Kenntnisse über Kunst, Musik und Literatur erwerben. Meine Freunde mußten natürlich aus gutem Hause sein. Vielleicht habe ich deswegen nie wirklich enge Freundschaften gehabt. Und jede Art von Auflehnung, jedes kleinste Zeichen meiner Persönlichkeit spiegelte für sie den Charakter jener Frau wider, deren Leben sie zerstört hatte.«
Kelsey pflückte einen Geißblattstengel und begann langsam, die zarten weißen Blüten abzuzupfen.
»Als ich zwölf war, wollte sie, daß ich nach England ins Internat gehe. Mein Vater war dagegen. Das war eines der wenigen Male, wo sie eine Auseinandersetzung hatten. Milicent sagte, ich brauchte eine feste Hand, mein Vater meinte, ich brauchte eine unbeschwerte Kindheit.«
Seufzend zerrieb sie die Blütenblätter zwischen den Fingern. »Ob ihr wohl jemals klargeworden ist, daß sie ihn auch nur benutzt hat? Eine weitere Schachfigur. Wie weit ist sie für das Scheitern der Ehe meiner Eltern verantwortlich, Gabe, auch wenn vielleicht gar keine Chance bestand, daß diese Ehe glücklich wird? Aber das Kind ist schon lange in den Brunnen gefallen«, murmelte sie und ließ die Blüten fallen. »Jetzt muß ich sehen, wie ich meiner Mutter alles erkläre. Und da ist noch mein Vater. Mit ihm muß ich wohl auch reden, oder? Er hat das Recht zu erfahren, was sie damals getan hat. Und was sie vor kurzem erst getan hat.«
Sie wandte sich zu ihm und preßte ihr Gesicht an seine Brust, dankbar dafür, daß seine Arme ihr Schutz und Geborgenheit boten. »Was für ein Wahnsinn. So viele Leben, die zerstört oder ausgelöscht worden sind. Und warum? Nur aus falsch verstandener Familienehre.«
»Dazu kommen noch ein paar Todsünden«, bemerkte Gabe ruhig, der an seinen Vater denken mußte. »Neid, Gier, Verlangen. Ich habe schon immer eher an das Glück als an schicksalhafte Vorbestimmung geglaubt. Aber es ist mehr als Glück, was uns in diesen Kreis gezogen hat.« Er schob sie etwas von sich, um ihr ins Gesicht sehen zu können. »Du und ich, Kelsey, wir gehörten beide von Anfang an zu diesem Kreis.«
»Und wenn wir uns nicht gefunden hätten, wären wir vielleicht auch der Lösung, die den Kreis schließt, nicht so nahe. Du willst mit deinem Vater abrechnen, nicht wahr?«
»Ich muß ihn finden.«
»Das kannst du doch Rossi überlassen.« Beschwörend verstärkte sie ihren Griff. »Gabe, er will dir schaden. Wenn er gleich nach uns in Rooneys Büro aufgetaucht ist, könnte er uns gefolgt sein. Er sucht nach einer Gelegenheit, dich empfindlich zu treffen.«
»Deshalb muß ich ihn ja zuerst finden. Das ist mein ganz persönlicher Kreis, Kelsey, und den muß ich schließen.«
»Aber wenn wir zur Polizei gehen würden . . .«
»Warum haben wir dann nicht schon längst angerufen?«
Kelsey senkte den Blick. Warum nur konnte er in ihrem Gesicht ihre Gedanken lesen wie in einem Buch? »Na gut. Ich muß mit Naomi sprechen, und du mußt deinen Vater finden. Dann machen wir der Sache ein Ende. Und jetzt bringst du mich besser nach Hause.«
Auf Three Willows angelangt wies sie sein Angebot, sie zu begleiten, energisch zurück. Sie mußte allein damit fertigwerden. Also wartete er nur, bis sie im Haus war und die Außenbeleuchtung erlosch.
Gabe hatte mit seinen eigenen bösen Geistern zu kämpfen. Und der erste trug beileibe nicht das Gesicht seines Vaters.
Als Kelsey im Haus war, schaute sie zur Treppe. Es war bereits spät, und Naomi lag zweifellos schon im Bett.
Warte lieber bis morgen, dachte sie bei sich. Auf eine Nacht mehr oder weniger kommt es nun auch nicht mehr an. Nein, das war Feigheit. Seufzend ging Kelsey in die Küche. Sie würde sich einen Tee aufbrühen, und dabei konnte sie sich genau zurechtlegen, was sie sagen wollte.
»Gertie?« Zu ihrer Überraschung fand sie die Haushälterin in der Küche vor, wo sie gerade die Spülmaschine einräumte.
»Oh, Miss Kelsey, haben Sie mich erschreckt.« Die Frau zuckte zusammen und preßte eine Hand gegen ihren pinkfarbenen Morgenmantel.
»Es ist schon nach Mitternacht. Du solltest so spät nicht mehr arbeiten.«
»Ach, ich hab’ nur mein Geschirr
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