Schatten über Oxford
nichts von dem, was der Mann sagte, irgendeinen Sinn.
Im Laden an der Ecke, wo ich kurz anhielt, um mir zwanzig Gramm Tabak zu kaufen, hörte ich, wie jemand sagte: »Es war ihr Geburtstag.«
Ich weiß nicht, warum das alles noch viel schlimmer machte, und doch war es so.
Miss Marlyn hat mir einen Brief geschrieben, in dem stand, dass die Kinder gestohlen hätten. Doch was immer dort in High Corner vorgefallen sein mag, es steckt mit Sicherheit mehr dahinter.
Nicht, dass ich nach einer Entschuldigung für sie su che. Was sie getan haben, war bestimmt nicht richtig. Aber Menschen wie Elinor Marlyn leiden niemals Hunger – keinen wirklichen Hunger. Natürlich knurrt auch ihnen gelegentlich der Magen, wenn sie einmal eine Mahlzeit auslassen. Und wenn sie der Meinung sind, dass sie um die Taille herum ein wenig zugelegt haben, verzichten sie für ein paar Wochen auf Süßigkeiten. Aber wochenlang nur langweilig graue Soße auf weißlichem Brei vorgesetzt zu bekommen, einen winzigen Würfel schwitzigen Mausefallen-Käse oder knauserig auf krümeliges Brot gestrichene, künstlich gelbe Margarine – davon wissen sie nichts.
Natürlich weiß ich auch, dass wir verhungern werden – in dieser Beziehung habe ich weiß Gott Erfahrung! –, aber irgendwie ist nie genug von allem da, und schon gar nicht von den Dingen, die man wirklich gern isst.
Wir denken immer nur ans Essen. Essen ist zu unserem ständigen Gesprächsthema geworden, wie in früheren Zeiten das Wetter. Und es sind nicht nur Leute wie ich, also ehemalige Kriegsgefangene, die wissen, was Hunger bedeutet. Allen geht es so. In Geschäften und Pubs, in der Warteschlange an der Bushaltestelle und in den Luftschutzkellern – überall kennt man nur ein Thema: Essen.
Kann man da den Kindern einen Vorwurf machen?
Unser beider Schicksal war recht ähnlich, Christopher. Wir wurden fortgeschickt, um unsere Pflicht zu tun, und dann vom Feind zerstört. Wir dachten, wir könnten nach Hause zurückkehren, wenn alles vorüber ist, doch das war unmöglich. »Nach dem Krieg« hieß unsere Losung. Mit ihr schickten wir unsere Fantasie auf die Reise, weit weg aus der unerträglichen Gegenwart in eine verheißungsvolle Zukunft, wo alles so sein würde, wie wir es uns wünschten. Doch es gab keine Vergangenheit, in die wir zurückkehren konnten. Sie existierte nicht mehr. Ich bin nicht einmal mehr sicher, ob es sie je gegeben hatte. Doch wir alle wiederholten die magischen Worte immer und immer wieder und warteten gemeinsam auf den Sankt Nimmerleinstag. Die moderne Variante unserer Losung lautet vermutlich »Wenn ich im Lotto gewinne«. Wie heißt es doch so schön? Es ist wahrscheinlicher, vor der nächsten Ziehung tot umzufallen, als den Jackpot zu gewinnen.
Meine persönliche Losung, nachdem der Krieg für mich zu Ende war, hörte sich über Wochen und Monate so an: »Wenn ich nach Hause komme.« Doch auf mein Zuhause waren Bomben gefallen. Manchen Häusern hatte es die Seitenwände weggerissen, sodass man in allen Einzelheiten erkennen konnte wie die Leute dort gelebt hatten. Ich fand es geradezu peinlich wie die Wohnungen zur Schau standen; es war, als würde man seine Großmutter auf der Toilette überraschen. Ich glaube etwas Ähnliches ist sogar in der Tanner Street passiert. Die alte Mrs Beavis stand plötzlich im Freien und hatte noch ihre alten Unterhosen um die Knöchel. Die arme alte Frau hat sich danach sehr verändert. Das allerdings mag auch daran gelegen haben, dass sie durch den Explosionsknall völlig taub geworden war und nie wusste, was die Leute um sie herum redeten.
Du, Elinor Marlyn, bist nur ein weiterer Schatten auf meinem Leben. Du wartest hinter unübersichtlichen Ecken und liegst in dunklen Treppenhäusern auf der Lauer und bist doch nichts weiter als ein geisterhaftes Sinnbild für die Banalität des Todes und die Sinnlosigkeit von Rache.
Mit deinem Lächeln erinnerst du mich daran, wie ähnlich wir uns sind. Wenn ich in den Spiegel sehe – was ich nur tue, wenn es wirklich nötig ist –, sehe ich dein Gesicht unmittelbar hinter meinem. Im Leben waren wir es nie, doch jetzt sind wir für immer verbunden durch diesen anderen Akt der Vollendung.
In meiner Einbildung bist du jünger als zu dem Zeitpunkt, als wir uns kennen lernten, und ich bin älter – allerdings nicht so alt wie jetzt. Und wir treffen uns als Ebenbürtige, weil wir einander verstehen.
Als ich aus Italien zurückkehrte und Sheila in ihren letzten Lebensmonaten
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