Schatten über Oxford
Gedanken und Gefühlen. Vor einiger Zeit war ich als Tagespatient in einem Hospiz. Dort bekommt man alles, was der Mensch so braucht, von der Thai-Massage bis hin zu einer Frau, die mit einem über den Tod spricht. Meine Beraterin – so bezeichnen diese Damen sich selbst – meinte, es könne mir helfen, alles aufzuschreiben. Und zwar nur für mich selbst. Niemand anders bräuchte es je zu lesen. Und wenn ich wollte, würde sie dafür sorgen, dass es nach meinem … äh … also später dann vernichtet würde. Sie sagte, es würde mir helfen, mit den Schmerzen umzugehen und mich den Tatsachen zu stellen. Vielleicht würde ich aufhören, etwas zu leugnen, was doch unweigerlich geschehen würde.«
Kate schwieg. Hätte sie ihn unterbrochen, hätte er vielleicht das Thema gewechselt.
Alan zuckte die Schultern. »Ich soll mich der Tatsache stellen, dass ich sterbe«, sagte er schließlich. »Natürlich weiß ich es. Ich weiß es schon seit langer Zeit. Genau genommen waren es nur die Worte, vor denen ich davonlief. Genau wie ich vor dem davongelaufen bin, was ich in High Corner gesehen hatte – zwei kleine Kinder, die mich mit ihren Blicken anflehten, sie zu retten. Ich war alles, was ihnen geblieben war. Ihre einzige Hoffnung.«
»Sie haben getan, was Sie konnten. Und Sie mussten damals zusätzlich mit Ihren eigenen Dämonen fertig werden«, sagte Kate sanft.
»Mag sein. Doch mir blieb nur, die Scherben aufzusammeln.«
»Und da steht alles drin?«, fragte sie und klopfte auf das Buch.
»Das meiste. Sie wollen doch wissen, was mit Chris geschah und wie und warum Elinor Marlyn starb, nicht wahr?«
»Genau.«
»Das steht drin.«
»Woher wussten Sie, was wirklich geschehen ist? Ich bin herumgelaufen und habe alle möglichen Leute befragt, aber mehr als das, was in der Zeitung stand, habe ich nicht herausbekommen.«
»Es war Susie, die mir schließlich doch alles erzählt hat. Wenn Sie das Tagebuch gelesen haben und noch Fragen offen sind, rufen Sie mich ruhig an. Ich denke, ich bin noch ungefähr eine Woche da. Mindestens.«
Er lächelte sein Totenkopflächeln, und Kate bemühte sich, nicht zurückzuschrecken.
Sie schlug die erste Seite auf und überflog sie. Was sollte man sagen, wenn ein Mensch einem den Bericht seines Lebens anvertraute? Die Schrift war ausgesprochen ordentlich – jeder Buchstabe gestochen scharf. Ganz anders als ihr eigenes nachlässiges Gekrakel.
»Ich habe das Tagebuch eigentlich nicht für andere geschrieben. Sie werden es sicher an manchen Stellen ein wenig schwerfällig finden. Und dann gibt es auch Passagen, in denen ich mit meinem Schicksal hadere. Die können Sie ruhig überschlagen.«
»Ich glaube kaum, dass ich etwas überschlagen werde«, sagte Kate.
»Sie wundern sich sicher, wieso sich ein einfacher Arbeiter wie ich so gut ausdrücken kann«, fuhr er fort.
Kate nickte. Ja, genau das hatte sie sich gefragt.
»Ich war im Gefangenenlager. Zunächst in Chieti, dann in Fontanellato.« Er sah, dass Kate nichts mit den Namen anfangen konnte, und erklärte: »In Norditalien. Und wissen Sie, was das Schlimmste dort war? Die Langeweile. Den ganzen Tag konnten wir nichts anderes tun, als entweder zu lesen oder die von Offizieren gehaltenen Vorträge zu besuchen. Und eines muss man diesen Leuten lassen – sie vermittelten uns wirklich alles, was sie von ihrer teuren Ausbildung in Erinnerung behalten hatten. Wir bekamen alles umsonst. Und dabei hatten wir lediglich die Hauptschule abgeschlossen. Ich hatte immer geglaubt, Lernen sei etwas Unangenehmes und dass man sich wieder wie ein Kind fühlt und dumm wirkt. Aber Unbehagen war nicht das Problem in diesem Lager – es war die Langeweile. Wenn Sie sich einmal so langweilen wie ich damals, dann tut man wirklich alles, um dem abzuhelfen. Wir redeten über alle Sachgebiete, ob es nun Geschichte, Griechisch oder Latein war, Mathematik oder Biologie. Und natürlich über Politik. Wir diskutierten manchmal stundenlang über Marx und Engels. Das Lager war mein College, Miss Ivory. Dort habe ich gelernt, meine Gedanken zu entwickeln und ihnen Ausdruck zu verleihen. Bilden Sie sich selbst ein Urteil über das Resultat.«
Kate war nicht ganz sicher, ob er seine letzte Bemerkung ernst oder ironisch gemeint hatte. Sie steckte das Tagebuch vorsichtig in ihre große Tasche.
Alan beobachtete sie. »Wie schon gesagt, es handelt sich nicht um eine durchgängige, zusammenhängende Geschichte. Ich habe eigentlich nur dann und wann geschrieben und
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