Schatten über Sanssouci
von Österreich.
23
Es dauerte
eine Weile, bis La Mettrie zurückkam. Quantz nahm an, er habe noch dem Abtritt
einen Besuch abgestattet. Doch als der Franzose das Zimmer betrat, schwankte er
leicht, ließ sich in den Sessel fallen und sah den Kammermusiker aus glasigen
Augen an.
»Was haben Sie
getan?«, fragte Quantz.
»Nichts«, sagte La
Mettrie mit lallender Stimme. »Das heißt – eine Menge. Nachgedacht. Gott … eine
Maschine … eine Maschine, die sich selbst baut … gebaut hat.«
»Sie haben von der
Opiumtinktur getrunken. Wäre es nicht besser, Sie blieben klar im Kopf – jetzt,
wo wir kurz davor sind, das Rätsel zu lösen? Mein Gott, Monsieur!«
»Lassen Sie Gott aus
dem Spiel. Mein Kopf ist so klar wie nie … zuvor.« La Mettrie versuchte
ächzend, sich zu erheben, aber er sackte in den Sessel zurück. »Wer hat Sie,
lieber Maître de Musique, denn auf den richtigen Weg gebracht? Wer hat Ihnen
gezeigt, was in der Musik, mit der Sie sich ja so gut auskennen, noch alles
steckt? Außerdem brauche ich gegen Nachmittag immer meine Dosis. Es hat schon
ein Uhr geschlagen …«
Quantz schüttelte
verärgert den Kopf. Er nahm den Bogen Notenpapier, auf dem er das Abecedarium
erarbeitet hatte. Wie es sich Andreas – vorausgesetzt, La Mettries Theorie
stimmte – gedacht hatte.
»Ja, lesen Sie nur.«
Er lachte blöde vor sich hin. »Lesen Sie und erkunden Sie das Geheimnis. Ich
bin selbst gespannt …«
Also gut, dann fiel
La Mettrie eben mal wieder aus. Es ging sicher auch ohne ihn. Quantz verglich
seine Liste mit der kleinen eigenartigen Melodie. Dann unterzog er die Noten
einer eingehenden Prüfung. Tatsächlich waren es nur jeweils die ersten beiden Noten
der Takte drei bis sieben, die in dem System vorkamen. Hinter Quantz schabte
der Sessel über den Parkettboden. La Mettrie war es umständlich gelungen, sich
zu erheben. Nun kam er mit schweren Schritten heran. Als er neben dem Pult
stand, reckte er sich, dass in seinem Rock die Nähte ächzten.
»Sie sollten es noch
einmal mit dieser Tinktur probieren, die ich schon seit Jahren zu nehmen
pflege. Man erhält sie in der Apotheke ›Zum schwarzen Bären‹. Sie werden ein
ganz anderes Gespür für Ihren Körper erhalten, mein Lieber. Damit liegt es in
unserer Zeit ja ohnehin im Argen. Jeder versteckt in enger Kleidung das, woraus
er doch eigentlich besteht, die Frauen schnüren sich ein … Das kann doch
nicht im Sinne des Erfinders unserer göttlichen Maschine sein. Haben Sie das
gehört? Haha – ein genialer Gedanke, oder? Göttliche Maschine … Oder angeblich göttliche Maschine. Ich werde mein Buch neu
schreiben müssen. Wo war ich? Ach ja – man möchte sich am liebsten jeden Fetzen
Stoff vom Leibe reißen, vor allem bei diesem herrlichen Wetter … Sind Sie
schon mal nackt geschwommen? Es ist eine göttliche Erfahrung. Und um Potsdam
herum gibt es so viel Wasser. Wissen Sie was? Wenn wir das hier hinter uns
haben, gehen wir schwimmen. Und wir nehmen Sophie mit. Sicher hat sie auch
nichts dagegen, sich einmal von ihrer angenehmsten, sprich von ihrer
unbekleideten Seite zu zeigen. Hehehe …« Eine feuchte Speichelspur rann aus
seinem rechten Mundwinkel.
»Mäßigen Sie sich
Monsieur«, sagte Quantz streng.
Der Franzose sah ihm
von der Seite zu, als Quantz auf seiner Liste die Buchstaben, die sich aus den
in Frage kommenden Notenpaaren ergaben, einkreiste.
»Schon gut, schon
gut«, stöhnte er und wischte sich über den Mund.
»B«, sagte Quantz.
»Das Wort fängt mit B an.«
»Weiter, weiter«,
drängte der Franzose.
»R ist der zweite
Buchstabe. Und der dritte ein E.«
»Das E kommt am
Schluss wieder«, sagte La Mettrie stirnrunzelnd, offensichtlich um
Konzentration bemüht. »Wussten Sie eigentlich, dass das E der Buchstabe
ist, der in deutschen Texten am reichhaltigsten vertreten ist? Versuchen Sie
einmal, etwas zu schreiben und das E zu vermeiden. Gar nicht so einfach.
König ging mit Quantz zum Park. Sophie macht ihr Wams auf. Ach nein, in Sophie
ist ja ein E enthalten. Hehehe.«
»Bitte! Monsieur!«
»Oh! Mon Dieu! Mir wird auf einmal so schlecht.« La Mettrie
wankte zum Sessel zurück.
Die Information des
Franzosen war nicht uninteressant. Dem E hatte Andreas ein Notenpaar
zugeordnet, das in sehr vielen Melodien eine Rolle spielte. Dass er dies
einkalkuliert hatte, zeigte, wie durchdacht sein System war.
Und plötzlich stand
Quantz das Wort vor Augen.
»Brede«, sagte er.
Sein Kutscher? War er damit
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