Schattenblume
Amanda Wagner und Nick
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im Hinterzimmmer der Reinigung miteinander sprachen,
beide blickten in ihre Richtung.
«So», sagte Molly. «In ein paar Minuten spürst du
nichts mehr.»
«Hoffentlich», knurrte Lena, der Einstich tat immer
noch weh, obwohl die Nadel längst draußen war. Durch das
Schaufenster sah sie das Chaos auf der Straße. Mindestens
fünfzig Agenten des Georgia Bureau of Investigation
waren ausgeschwärmt, und keiner von ihnen hatte eine
Ahnung, was genau los war. Smith war tot, und Sonny saß
in Handschellen auf der Rückbank eines Streifenwagens
auf dem Weg nach Macon, wo sie ihn wahrscheinlich kran‐
kenhausreif prügeln würden. In der Hölle gab es einen be-sonderen Ort für Polizistenmörder.
Lena beobachtete, wie Molly das Nähbesteck sortierte,
das sie aus dem Krankenwagen geholt hatte. «Wo sind die
Mädchen?»
«Bei ihren Eltern», sagte Molly und legte sich Nadel
und Faden bereit. «Was die durchgemacht haben müssen.
Die Eltern, meine ich. Mein Gott, wenn ich nur daran
denke, wird mir schlecht.»
Lena merkte, wie ihre Hand taub wurde.
«Besser?», fragte Molly.
«Ja», gab Lena zu. «Danke, dass du das machst. Ich hasse
das Krankenhaus.»
«Das kann ich verstehen», sagte Molly und reinigte die
Wunde. «Du brauchst auch nur drei oder vier Stiche. Sara könnte das viel besser als ich.»
«Sie ist härter im Nehmen, als ich dachte.»
«Ich glaube, das sind wir alle», entgegnete Molly. «Das
hätte ich dir nicht zugetraut, als wir reingegangen sind.»
«Ja», sagte Lena einfach. Das Kompliment hatte einen
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schalen Beigeschmack. Lena hatte eine Heidenangst ge‐
habt.
Mit einer langen Pinzette griff Molly nach einer gebo‐
genen Nadel. Sie steckte die Nadel durch Lenas Haut. Lena
sah zu, wie ihr Fleisch durchbohrt wurde, ohne dass sie
etwas spürte außer einem dumpfen Zerren an der Haut. Es
war ein komisches Gefühl.
«Wie lange bist du schon mit Nick zusammen?»
«Nicht lange.» Molly verknotete den Faden. «Erst hater
es bei Sara versucht. Ich bin wohl so was wie der Trost-preis.»
Bei der Vorstellung von Nick und Sara als Paar musste
Lena lachen. «Sara ist zwei Meter größer als er.»
«Außerdem liebt sie Jeffrey», erinnerte sie Molly. «Lie‐
ber Gott, ich weiß noch, als ich die beiden das erste Mal zusammen gesehen habe.» Sie setzte zum nächsten Stich
an. Lena spürte wieder das dumpfe Zerren, als ihre Haut
durchbohrt wurde. «Ich hab Sara noch nie so rumalbern
sehen.»
«Sie hat rumgealbert?», wiederholte Lena. Sie musste
sich verhört haben. Sara war der ernsteste Mensch, den
Lena kannte.
«Rumgealbert», bestätigte Molly. «Wie ein Schulmäd‐
chen.» Sie machte einen sauberen Knoten in den zweiten
Faden. «Einer noch, glaube ich.»
«Ich habe Jeffrey nie mit diesen Augen gesehen.»
«Jeffrey?», fragte Molly überrascht. «Er ist umwerfend.»
«Wenn du meinst», Lena zuckte die Schultern. «Mit
ihm auszugehen, stelle ich mir vor, wie wenn man mit seinem eigenen Vater ausgeht.»
«Du vielleicht», sagte Molly viel sagend. Noch einmal
steckte sie ihr die Nadel durch die Haut und verknotete
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den dritten Faden. «Fertig», sagte sie dann und schnitt den
Faden über dem Knoten ab. «Alles in Ordnung.»
«Danke.»
«Es sollte keine größere Narbe geben.»
«Mir egal», sagte Lena und streckte die Hand aus. Sie
konnte die Finger bewegen, aber sie spürte nichts.
«Nimm eine Schmerztablette, wenn die Narkose nach‐
lässt. Ich sag Sara, dass sie dir welche geben soll, wenn du
möchtest.»
«Schon gut», wehrte Lena ab. «Sie hat im Moment an‐
dere Sorgen.»
«Es macht ihr nicht aus», widersprach Molly.
«Nein», versicherte Lena. «Danke.»
«Na gut», sagte Molly und suchte das Besteck zusammen.
Sie ächzte, als sie aufstand. «So, jetzt gehe ich nach Hause zu
meinen Kindern und trinke ein großes Glas Wein.»
«Das klingt gut», sagte Lena.
«Meine Mutter hat dafür gesorgt, dass sie keine Nach‐
richten sehen. Ich weiß gar nicht, was ich ihnen erzählen soll.»
«Dir fällt schon was ein.»
Molly lächelte. «Pass auf dich auf.»
«Danke», sagte Lena noch einmal und rutschte vom
Tisch.
Nick kam ihr entgegen, als sie nach hinten ging. «Wir
brauchen morgen deine Aussage», sagte er.
«Du weißt, wo du mich findest.»
Amanda Wagner lehnte am Kundentresen, das Telefon
ans Ohr gepresst. Als sie Lena sah, sagte sie ins Telefon:
«Einen Moment.» Dann wandte sie sich an
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