Schattenblume
Tempolimit zurück in die Stadt. Jedem bekannten Gesicht winkte er zu, als hätte er nichts Besseres zu tun. Jeffrey versuchte sich zu beherrschen. Er wusste, Reggie tat das mit Absicht. Doch als sie mit vierzig Stundenkilometern an der Highschool vorbeikrochen, musste er Dampf ablassen.
«Gibt es einen Grund, weshalb du so langsam fährst?»
«Ich will dir nur auf den Sack gehen, Slick.»
Jeffrey starrte aus dem Fenster und fragte sich, wie viel schlimmer dieser Tag noch werden konnte.
Reggie fragte: «Willst du mir nicht sagen, was hier los ist?»
«Nein.»
«Genießt du hier irgendwelche Privilegien?»
Jeffrey pfiff durch die Zähne. «Privilegien. Schwieriges Wort.»
«Schön, dass es dich beeindruckt.»
«Hat dir das deine Schwester beigebracht?»
«Red nicht von meiner Schwester.»
«Wie geht’s Paula denn so?»
«Ich hab gesagt, du sollst den Mund halten, du Arschloch», warnte Reggie. «Warum fragst du nicht nach meinen Cousinen? Wie es ihnen so geht ohne ihren Vater? Wie unsere Familienfeste so sind, seit Onkel Dave nicht mehr bei uns ist?»
Jeffrey fühlte sich genauso mies, wie Reggie beabsichtigt hatte. Trotzdem widersprach er: «Ich bin nicht für meinen Vater verantwortlich.»
«Ach ja», sagte Reggie und nahm eine scharfe Kurve auf den Parkplatz der Wache. «Das ist mächtig bequem für dich. Soll ich das meiner Cousine Jo sagen, wenn sie im Herbst den Highschool-Abschluss macht und ihr Daddy nicht da ist, um ihr zu gratulieren? Das tröstet sie bestimmt.»
Jeffrey schnappte sich die nassen Socken von der Fußmatte und stieg aus dem Wagen, bevor Reggie den Motor abgestellt hatte. Er stürmte in das Gebäude, ohne auf die Sekretärin oder den Hilfssheriff zu achten, der bei ihr am Schreibtisch stand, und rannte nach hinten zu Hoss’ Büro. Ohne anzuklopfen, riss er die Tür auf.
Hoss blickte von seiner Zeitung auf, als Jeffrey die Tür hinter sich zuzog. «Was gibt’s denn, Junge?»
Jeffrey wollte sich setzen, doch etwas hielt ihn davon ab. Stattdessen lehnte er sich erschöpft an die Wand. Seine Ängste holten ihn langsam ein. Er sah sich im Büro des Sheriffs um. Auch hier hatte sich in den letzten zehn Jahren nicht das Geringste verändert. Die Anglertrophäen und die Fotos von seinem Boot standen nach wie vor dort, und die gefaltete amerikanische Flagge, die auf dem Sarg seines Bruders gelegen hatte, als sie seine Leiche aus Vietnam zurückbrachten, hatte nach wie vor ihren Ehrenplatz im Regal neben dem Fenster. Nach dem Tod seines Bruders wollte Hoss unbedingt auch zur Armee, doch er war wegen seiner Plattfüße ausgemustert worden. Hoss witzelte, das Pech der Armee sei Sylacaugas Glück gewesen, doch Jeffrey wusste, dass er es nicht so leicht genommen hatte.
Hoss sagte: «Jeffrey?»
«Wir haben Knochen gefunden.»
«Knochen?» Hoss faltete die Zeitung ordentlich zusammen.
«In der alten Höhle, wo die Jungs und ich nach der Schule immer waren.»
«Beim Steinbruch?», fragte Hoss vorsichtig. «Wahr scheinlich ist es ein Bär oder so was.»
«Sara ist Ärztin, Hoss. Sie weiß, wie menschliche Knochen aussehen. Verdammt, das verfluchte Skelett lag auf dem Felsvorsprung, als würde die Lady auf der Couch ein Mittagsschläfchen machen.»
«Eine Frau?», fragte Hoss, und mit einem Mal wurde die Luft im Raum stickig.
An der Tür klopfte es.
«Was ist?», rief Hoss.
Reggie machte die Tür auf. «Ich wollte nur –»
«Lass uns eine Minute allein», bellte Hoss, er duldete keine Widerrede.
Jeffrey hörte, wie die Tür ins Schloss fiel, doch er hatte den Blick nicht von Hoss gewandt. Der alte Mann schien in den letzten Sekunden um hundert Jahre gealtert zu sein.
Jeffrey griff in die Hosentasche und zog die Kette heraus, die er in der Höhle gefunden hatte. Er hielt sie hoch und ließ das herzförmige goldene Medaillon in der Sonne tanzen.
«Das beweist gar nichts», sagte Hoss. «Sie ist zigmal draußen in der Höhle gewesen. Das weiß jeder. Verdammt, sie hat es selbst rumerzählt.»
«Sara wird nicht zulassen, dass diese Sache unter den Teppich gekehrt wird.»
«Ich dachte, ihr wolltet heute Nachmittag abfahren?»
«Ich hatte sie davor schon überredet, noch eine Nachtzu bleiben», erklärte Jeffrey. «So oder so, Sara wird der Sache hier auf den Grund gehen wollen.»
«Ich fürchte, da kann ich sie nicht ranlassen.»
Jeffrey registrierte die Schärfe in seiner Stimme. «Ich habe nichts zu verbergen», sagte er.
«Es geht nicht darum, ob jemand was zu verbergen
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